Umgang mit Gewohnheiten – Teil 1

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„Die Gewohnheit ist die zweite Natur“, sagt ein Sprichwort. Tatsächlich neigen wir im Leben immer wieder dazu, gewohnheitsmässig zu agieren oder zu reagieren. Jede Gewohnheit führt mit der Zeit zu einer Fixierung, zu einem Festhalten und zu einer ,Versteinerung‘. Ein weiteres Sprichwort sagt: „Leben heisst sich verändern“. Eine Veränderung drängt sich meistens von selbst auf. Wer dabei stur an einer Lebensgewohnheit festhält und den Veränderungsschritt nicht mitmacht, wird deswegen früher oder später leiden müssen.

Einleitung

Gewohnheiten sind Automatismen, welche uns im Alltag helfen können. Vor allem aber steuern sie unser Verhalten und beeinflussen unser Denken und unsere Emotionen sowie den Umgang mit anderen und mit uns selbst.

Wenn wir an Gewohnheiten denken, kommt uns vermutlich in den Sinn, dass wir uns jeweils zu Jahresende Vorsätze fassen, mit denen wir diese oder jene Gewohnheit ändern möchten. Sicher haben wir auch schon die Erfahrung gemacht, dass dies nicht so leicht umzusetzen ist, wie wir zuvor gedacht haben. Willenskraft alleine reicht oft nicht aus, eine Gewohnheit zu ändern. Gewohnheiten üben eine gewisse Macht auf uns aus, welche man zuerst verstehen muss.

Um wirklich zu verstehen, wie Gewohnheiten entstanden sind und wie man damit umgeht, müssen wir psychologische Erklärungen hinzuziehen. Die gegenwärtigen Erkenntnisse der westlichen Psychologie reichen aber nicht aus, den ganzen Seinsbereich aus yogischer Sicht mit einzubeziehen.

Ich beziehe mich deshalb auf die yogische Psychologie gemäss dem Begründer des Integralen Yoga, Sri Aurobindo (1872 – 1950). Diese setzt ein gewisses Verständnis der verschiedenen Seins- und Bewusstseinsebenen aus der Sicht des Integralen Yoga voraus (siehe Blogbeitrag Teile und Ebenen des Seins).

Definition des Begriffs Gewohnheit

Zunächst die Definition des Begriffs ‘Gewohnheit’ gemäss Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Gewohnheit

„Als Gewohnheit (auch Usus, von lateinisch uti „gebrauchen“) wird eine unter gleichartigen Bedingungen entwickelte Reaktionsweise bezeichnet, die durch Wiederholung stereotypisiert wurde und bei gleichartigen Situationsbedingungen wie automatisch nach demselben Reaktionsschema ausgeführt wird, wenn sie nicht bewusst vermieden oder unterdrückt wird. Es gibt Gewohnheiten des Fühlens, Denkens und Verhaltens.
In der deutschen Sprache wird das Wort, das sowohl dem lateinischen habitus als auch consuetudo entspricht, seit frühneuhochdeutscher Zeit verwendet, so bei Johannes Tauler und Paracelsus. …
Gewohnheitsbildung hat eine Entlastungsfunktion; sie enthebt das Individuum der Notwendigkeit, immer wieder neue vernünftige Überlegungen anstellen zu müssen. Sie kompensiert also Defizite der Vernunft. “

Gewohnheiten und Charakter

Unsere Gewohnheiten beschleunigen oder verzögern unseren spirituellen Erfolg.

Es gibt sowohl gute wie auch schlechte Gewohnheiten:

  • gute Gewohnheiten kann man auch als Tugenden bezeichnen,
  • schlechte Gewohnheiten sind Untugenden.

„Sowohl gute auch schlechte Gewohnheiten brauchen Zeit, um Macht über euch zu gewinnen.
Hartnäckige schlechte Gewohnheiten können durch gute Gewohnheiten ersetzt werden, wenn man diese geduldig entwickelt.“

Foto von Paramahansa Yogananda

Gewohnheiten wirken auf verschiedenen Ebenen als:

  • Denkgewohnheiten
  • Gefühlsgewohnheiten
  • Gewohnheiten auf der körperlichen Ebene
  • sowie verhaltensbezogene Gewohnheiten

Die Summe aller Gewohnheiten macht unseren Charakter aus und ist auch verantwortlich für unser zukünftiges Schicksal (Karma).

„Der Mensch sät einen Gedanken und erntet eine Handlung.
Er sät eine Handlung und erntet eine Gewohnheit.
Er sät eine Gewohnheit und erntet einen Charakter.
Er sät einen Charakter und erntet ein Schicksal.
Daher ist das Schicksal Dein eigenes Werk.
Du hast es geschaffen. Du kannst es aufheben,
indem Du edle Gedanken pflegst, tugendhaft handelst
und deine Denkweise änderst.“

Foto von Swami Sivananda

Swami Sivananda

Die Kraft der Gedanken

„Die Gewohnheit ist die zweite Natur.“
So lautet ein weiteres Sprichwort, welches aufzeigt, wie stark Gewohnheiten unseren Charakter prägen.

Charakterbildung hat somit immer auch mit der Bewusstmachung der verschiedenen Gewohnheiten zu tun. Vor allem sollten wir ein Auge auf unsere schlechten Gewohnheiten werfen und mit der Zeit versuchen, diese in gute Gewohnheiten umzuwandeln. Das Ziel ist unter anderem, ein tugendhaftes Leben zu führen.

Individualität und Universalität / Leben, Tod, Wiedergeburt

Bevor wir tiefer in die Thematik der Gewohnheiten eintauchen und diese aus der Sicht yogischer Psychologie betrachten, müssen wir weitere yogarelevante Themen mit einbeziehen wie

  • Individualität und Universalität
  • Leben, Tod und Reinkarnation

Ausführliche Informationen zu diesen Themen können im Blogbeitrag Leben – Tod – Reinkarnation nachgelesen werden.

Gewohnheiten und ihre Wurzeln

Wie im oben erwähnten Blogbeitrag ‚Leben – Tod – Reinkarnation‘ beschrieben, ist unser jetziges Leben eine Verdichtung von universalen Kräften, welche unsere Persönlichkeit bildet. Durch ein bewusstes und achtsames Leben können wir mit der Zeit erkennen, welchen Kräften und Mächten der Gewohnheit wir ausgesetzt sind. Paramapadma Dhirananda hatte immer wieder betont, dass Selbsterkenntnis die schwierigste Erkenntnis ist. Die Fehler der anderen Menschen sieht man sehr schnell, doch die eigenen Unzulänglichkeiten erkennt man nicht, bzw. man projiziert sie auf andere Menschen.

Die in unserem Unterbewusstsein gespeicherten Eindrücke, welche in unserer Vergangenheit gebildet wurden, werden saskāras genannt. Diese saskāras sind die Ursachen der Gewohnheiten.

Durch Yoga-Sādhana versuchen wir mehr und mehr alle Bewusstseins- und Seinsebenen bewusst zu machen und nach und nach mehr Licht in das Unterbewusste zu bringen, um dieses zu klären und zu harmonisieren.

Das Unterbewusste ist die Stütze der gewohnheitsmäßigen Tätigkeit
– es kann sowohl gute wie schlechte Gewohnheiten stützen. “

„Das Unterbewusste ist ein Ort der Gewohnheiten und Erinnerungen, es wiederholt hartnäckig oder wann immer es kann alte, unterdrückte Reaktionen und Reflexe, mentale, vitale oder physische. Es muss durch den beharrlicheren Druck der höheren Wesensteile geschult werden, seine alten Reaktionen abzulegen und sie durch die neuen und wahren zu ersetzen. “

Foto von Sri Aurobindo

Sri Aurobindo

Briefe über den Yoga - Band 1

Weiter schreibt Sri Aurobindo in Briefe über den Yoga, Band 1:

„In unserem Yoga meinen wir mit dem Unterbewussten jenen ganz versunkenen Teil unseres Wesens, in dem es keinen wachbewussten, zusammenhängenden Gedanken und Willen, keine Empfindung oder geordnete Reaktion gibt und der dennoch dunkel die Eindrücke aller Dinge empfängt und sie in sich speichert; aus ihm können auch alle Arten von Reizen, von beharrlichen, gewohnheitsmäßigen Regungen unverarbeitet wiederholt oder in fremdartige Formen verkleidet in den Traum oder die Wachnatur auftauchen. Denn wenn diese Eindrücke in den Traum aufsteigen können, meist in unzusammenhängender und ungeordneter Weise, können sie ebenfalls in unser Wachbewusstsein aufsteigen – was sie auch tun –, und zwar als mechanische Wiederholung vergangener Gedanken, vergangener mentaler, vitaler und physischer Gewohnheiten oder als verborgener Anreiz für Erregungen, Tätigkeiten und Gefühle, die ihren Ursprung nicht in unserem bewussten Denken oder Willen haben oder aus ihnen hervorgehen, sondern vielmehr ihren Vorstellungen, Neigungen oder Anordnungen häufig entgegengesetzt sind. Das Unterbewusste hat ein dunkles Mental, voller widersetzlicher saṁskāras, Eindrücke, Assoziationen, fester Vorstellungen, gewohnheitsmäßiger Reaktionen, die von unserer Vergangenheit gebildet wurden, ein dunkles Vital mit den Keimen gewohnheitsmäßiger Begierden, Erregungen und nervöser Reaktionen, ein äußerst dunkles Stoffliches, das viel von dem beherrscht, was mit dem Zustand des Körpers zu tun hat. Es ist größtenteils verantwortlich für unsere Krankheiten; chronische oder wiederholte Leiden werden tatsächlich meist vom Unterbewussten verursacht, von seiner beharrlichen Erinnerung und seiner Neigung, alles, was sich dem Körperbewusstsein eingeprägt hat, zu wiederholen. …“

„Das Unterbewusste ist ein verborgenes, unausgedrücktes und undeutliches Bewusstsein, das unterhalb all unserer bewussten physischen Tätigkeiten wirkt. So wie das, was wir das Überbewusste nennen, tatsächlich ein höheres Bewusstsein über uns ist, von dem die Dinge in das Wesen herabkommen, genauso befindet sich das Unterbewusste unterhalb des Körperbewusstseins, und die Dinge kommen von dort herauf in das Physische, in das Vital und in die Mental-Natur.

So wie das höhere Bewusstsein für uns überbewusst ist und all unsere spirituellen Möglichkeiten und die spirituelle Natur stützt, so ist das Unterbewusste die Grundlage unseres stofflichen Wesens und stützt all das, was in die physische Natur heraufkommt.

Die Menschen sind sich im Allgemeinen keiner der Ebenen ihres Wesens bewusst, doch mit Hilfe der Sādhana vermögen sie diese wahrzunehmen.

Das Unterbewusste bewahrt die Eindrücke all unserer vergangenen Lebenserfahrungen, und diese können von dort in Form von Träumen aufsteigen: die meisten Träume des durchschnittlichen Schlafes sind Formen, die von unterbewussten Eindrücken stammen.

Die Neigung, dass die gleichen Dinge in unser physisches Bewusstsein hartnäckig zurückkehren, jene Neigung, die es uns so schwer macht, uns von seinen Gewohnheiten zu befreien, hat ihre Ursache großenteils in einem unterbewussten Rückhalt. Das Unterbewusste ist voller vernunftwidriger Gewohnheiten. …“

Damit die Wurzeln der Gewohnheiten (saskāras) beseitigt bzw. umgewandelt (transformiert) werden können, muss mit der Zeit das Unterbewusstsein geläutert und harmonisiert werden (siehe Bild unten).
Mehr zu diesem Thema siehe Blogbeitrag Methoden und Ziel des Integralen Yoga.

Transformation von Mental, Vital, Physis und Unterbewusstsein

Leben heisst sich verändern

Alles ist in Bewegung

Die ganze Schöpfung verändert sich dauernd. In der Yoga-Philosophie wird die Natur (Sanskrit: prakti) als ewig wandelbar beschrieben, welche sich in der Welt der Erscheinungen offenbart.

Prakti [die Natur] ist die ewige Quelle der Energie, welche unbegrenzt und nicht veränderbar ist. Sie ist wie ein großer Behälter, der die ganze Welt in sich aufnimmt und deren Form sich dauernd ändert.“

Foto von Paramapadma Dhirananda

Paramapadma Dhirananda

Yogamrita - die Essenz des Yoga

Es gibt Veränderungen, welche sehr langsam ablaufen und wir Menschen aufgrund der begrenzten Lebensdauer nicht direkt erkennen können, wie z.B. das Verschieben der Kontinentalplatten, usw.

Hingegen nehmen wir die zyklischen Veränderungen von Tag und Nacht sowie den Jahreszeiten war. Zudem leben wir in verschiedenen Lebensphasen, welche ca. alle 6-7 Jahre in eine neue Qualität wechseln (in der Astrologie spricht man von den 12 Häusern). Diese Veränderungen der Lebensabschnitte, verbunden mit dem natürlichen Alterungsprozess nehmen die Menschen mehr oder weniger bewusst war.

Auslösepunkt für Veränderungen im Leben

Gewohnheiten machen uns träge. Nur selten sind wir bereit, bequeme Gewohnheiten ‚freiwillig‘ aufzugeben.

Oft entwickeln sich die Dinge auf eine ganz andere Weise, als man vorher gedacht hatte. Bei den meisten Menschen folgt das Leben gewissen Denkmustern, welche in eigenen Denk- und Gefühlsgewohnheiten wurzeln.

Dazu folgende Sprichworte:
„Erstens kommt es anders zweitens als man denkt.“
„Der Mensch denkt und Gott lenkt.“

Veränderungen im Leben werden meistens durch Probleme und Krisen, welche auf uns innerlich oder äusserlich wirken, initiiert. Wie das Wort ‚Notwendigkeit‘ meint, ist eine Wende, bzw. eine Veränderung erst nach einer Not möglich.
Mit einer positiven Einstellung gegenüber Problemen und Krisen gelingt es uns besser, auf notwendige Veränderungen im Leben einzugehen.

Bibel, Matthäus 16.25:
„Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“

Einstellung zu Krisen und Problemen

Probleme sind für uns im ersten Moment immer etwas Negatives. Sie stören unsere innere Ruhe und wir möchten sie möglichst schnell gelöst haben. Wir wissen aber nicht, dass Probleme und Krisen immer Auslöser für Lernprozesse sind. Ohne Probleme würden wir uns weiterhin gleich wie bisher verhalten und wir würden uns dadurch nicht weiterentwickeln.

Das Wort ‚Problem‚ hat die Vorsilbe ‚pro‘  = ‚für‘ und nicht ‚anti‘ oder ‚kontra‘ = gegen. *)
Ein Problem ist also für etwas und nicht gegen etwas. Es kurbelt unsere Entwicklung an und ist der Motor für unseren Lernprozess. Wir leben nicht nur zum Vergnügen auf dieser Erde, sondern wir sind da, um uns weiterzuentwickeln.

*) Bemerkung: dies ist meine eigene Interpretation und diese ist eventuell sprachwissenschaftlich nicht belegt.

Wenn wir unsere Einstellung zu Problemen und Krisen ändern, dann ist die Brisanz der Probleme bereits entschärft. Wenn wir wissen und akzeptieren, dass Probleme Schubkräfte auf unserem spirituellen Weg sind, dann wird das Leben leichter.

Wir sollten Probleme als unsere Lehrer oder unsere Trainer akzeptieren, die uns etwas beibringen und unseren Lernprozess antreiben. So wie ein Edelstein oder ein Kristall, welcher nur unter extremem Druck und starker Hitze zu einem Edelstein oder zu einem Kristall heranwächst. Ein normaler Stein bleibt ein normaler Stein. Möchten nicht auch wir menschliche Edelsteine werden?

Wenn es uns zu gut geht, dann bleiben wir stehen und entwickeln uns nicht weiter. Deshalb schickt uns unser Schöpfer Probleme und Krisen. Dies hat sich auch in der deutschen Sprache niedergeschlagen, z.B. im Wort Notwendigkeit.
Dies meint eigentlich, dass es zuerst eine Not braucht, damit eine Wende eintreten kann. Die Not löst also eine Konsequenz aus, welche eine Veränderung zur Folge hat.

Je mehr wir ein äusseres Leben führen, ohne verinnerlicht zu sein, desto mehr leiden wir. Die wahre Zufriedenheit kommt von innen. Wenn wir stärker verinnerlicht sind, kann uns ein äusseres Problem viel weniger anhaben.

Ein Problem löst sich aber oft erst dann auf, wenn wir es von innen herangehen. Das heisst auch, dass wir es zuerst akzeptieren, annehmen müssen. Jedes Problem, jede Krise trägt eine Botschaft in sich und ist eine Informationsquelle für unsere Weiterentwicklung. Oft erst viel später erkennen wir die wahre Bedeutung eines Problems.

Gerne möchte ich in diesem Zusammenhang auf den Yoga Themen-Nachmittag Umgang mit Krisen und Problemen hinweisen.

Jede Person geht mit Problemen und Krisen anders um, je nachdem, wie viel man bereits an sich selber gearbeitet hat und sich selbstverwirklicht hat. Je verinnerlichter man ist, das heisst je mehr man sich von der Seele (seelisches Wesen) leiten lässt, desto ruhiger kann man beim Auftreten eines Problems oder einer Krise bleiben.

Die neben stehende Abbildung zeigt schematisch, wie Probleme bei einem selbstverwirklichten und einem ’normalen‘ Menschen wirken. Beim ’normalen‘ Menschen besteht zum inneren Wesenskern, der Seele (seelisches Wesen) noch eine Barriere, die der selbstverwirklichte Mensch überwunden hat.

In diesem 1. Teil des Beitrags ‚Umgang mit Gewohnheiten‘ habe ich vor allem definiert, was Gewohnheiten sind, welche Wurzeln sie haben und wie sie sich auf unser Leben auswirken.

Der 2. Teil von ‚Umgang mit Gewohnheiten‘, befasst sich mit der Bewusstwerdung und der möglichen Veränderung der Gewohnheitsmuster.

Dies ist ein Auszug aus dem Yoga-Thementag Umgang mit Gewohnheiten.