Umgang mit Gewohnheiten – Teil 2

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Dieser 2. Teil des Beitrags Umgang mit Gewohnheiten befasst sich vor allem mit der Bewusstmachung und der möglichen Veränderung von vorhandenen Gewohnheitsmustern.

Im 1. Teil dieses Beitrags wurde vor allem definiert, was Gewohnheiten sind, welche Wurzeln sie haben und wie sie sich auf unser Leben auswirken.

Umgang mit Gewohnheiten, Einleitung

Flexibilität, Annehmen und Bereitschaft zur Veränderung sind wichtige Tugenden auf dem Lebensweg. Alles was starr ist, verhindert ein Fortschreiten. Das Leben selbst birgt ständig die Möglichkeit, sich zu verändern. Doch diese Veränderung funktioniert nur dann, wenn wir diese annehmen können.

Festgesetzte Gewohnheiten können bei sich verändernden Lebenssituationen hinderlich sein und müssen zuerst abgebaut oder umgewandelt werden.

Das Wahren des Anfängergeistes (beginner‘s mind) ist eine der besten Voraussetzungen, auf Veränderungen im Leben zu reagieren und hindernde Gewohnheiten abzubauen.

Bewahrung des Anfängergeistes (beginners’s mind)

Wenn man sich stets den sogenannten Anfängergeist (beginner’s mind) bewahren kann, hat man grosse Vorteile, spielerischer mit Krisen und Problemen umgehen zu können.

Der griechische Philosoph Sokrates sagte: „Ich weiss, dass ich nicht(s) weiss“ oder im übertragenen Sinn: „Je mehr ich weiss, weiss ich, dass ich nichts weiss.

Eine solche Einstellung verhindert, dass man hochmütig sowie arrogant wird und man ist sich bewusst, dass es immer wieder etwas Neues zu lernen gibt. Das Lernen kennt kein Ende.

Die Menschheit hat zwar technisch sehr viel erreicht, doch in der seelisch-spirituellen Entwicklung hat sich in den letzten 100 Jahren kaum etwas verändert.

„Selbst wenn wir uns bis in die siebente Galaxis begeben, so tun wir das computergesteuert und in einen Raumanzug gewickelt; und nichts ändert sich, wir stehen genauso da wie zuvor: als hilflose Kinder im Angesicht des Todes, als Lebewesen, die sich nicht recht sicher sind, warum und weshalb sie eigentlich leben und wohin es wirklich geht. …..

Vielleicht machen wir die überraschende Entdeckung, dass unser prächtiges 20. Jahrhundert kaum mehr ist als ein Steinzeitalter der Psychologie, dass wir, trotz all unserer Wissenschaft, noch nicht auf die wahre Wissenschaft des Lebens gestoßen sind, auf die wirkliche Beherrschung der Welt und unser selbst, und dass sich vor unseren Augen Horizonte der Vollkommenheit, Harmonie und Schönheit öffnen, im Vergleich zu denen sich unsere stolzesten Entdeckungen und Erfindungen wie krude Dilettantismen eines Lehrjungen ausnehmen.“

Bemerkung:
Dieser Text ist nur in der alten Ausgabe dieses Buches ISBN 978-3-87348-166-4 als Vorwort enthalten.

Foto von Satprem

Lernen heisst verlernen

Unsere mentalen Denkgewohnheiten verhindern oft, dass man für etwas Neues offen ist. So kann man sagen, vor dem Lernen müssen wir zuerst etwas verlernen, damit wir wieder den oben beschriebenen Anfängergeist erarbeiten können.

Für ausführliche Informationen zu diesem Thema verweise ich gerne auf meinen Blogbeitrag Die Kunst Schüler zu sein.

Lernen anzunehmen

Eine starre Haltung blockiert eine anstehende Veränderung. Annehmen bedeutet Loslassen. Wer nicht loslassen kann, wird unweigerlich leiden müssen.

Paramapadma Dhirananda sagte immer wieder zu seinen Schülern:
„Das Wichtigste auf dem spirituellen Weg ist lernen zu akzeptieren.

Foto von Paramapadma Dhirananda

Paramapadma Dhirananda

Wir müssen ein Problem oder eine schwierige Situation zuerst annehmen und nach dem Sinn suchen, sonst haben wir keine Möglichkeit zur Lösung des Problems. Wir müssen die Botschaft des Problems ergründen. Auch wenn wir noch keinen sichtbaren Grund erkennen können, sollten wir positiv eingestellt sein. Eines Tages werden wir wissen, worum es geht.

Akzeptieren und nachgeben heisst aber nicht, sich aufzugeben oder willenlos zu sein. Im Gegenteil, erst nach dem Annehmen einer Situation hat man die volle Kraft, richtig auf etwas zu reagieren.

Dazu folgendes Beispiel:
Wenn man beim Baden in einem Fluss in einen Strudel gerät, hat man nur dann eine Überlebenschance, wenn man sich nach unten ziehen lässt, um sich dann am Grund des Flusses abzustossen. Wenn man strampelt und sich gegen das Herunterziehen wehrt, wird man irgendeinmal kraftlos und ertrinkt. Nur so hat man die Kraft dem Strudel zu entrinnen.

Alles was starr ist, bricht unter einer schweren Last. Flexibilität und Nachgeben sind notwendig, damit Veränderungen schmerzloser ablaufen.

Hier zwei Lebensweisheiten zum Thema Nachgeben und Flexibilität:
„Der Bambus bricht nicht unter der Last des schweren Schnees, weil er nachgibt.“
„Die Möwe überlebt den Sturm, weil sie ihm nachgibt.“

Wir sollten lernen, das Unannehmbare, das Garstige anzunehmen. Darin liegt die Lösung.

Es gibt eine andere Erzählweise des Märchens ,Der Froschkönig‘ der Gebrüder Grimm:
„Nachdem die Prinzessin den Frosch zum tausendsten Mal an die Wand geworfen hatte, nahm sie ihn zu ihrer Brust und akzeptierte ihn in ihrem Herzen. Sogleich verwandelte sich der Frosch in einen Königssohn.“

Man muss das Garstige, das der Frosch im Märchen darstellt, annehmen. Dann verwandelt es sich. Wir können den Frosch tausendmal an die Wand werfen (dies bedeutet das Problem nicht anzunehmen), der Frosch wird noch robuster und wird nie aufgeben. Erst wenn wir das Problem akzeptieren und nach dem Sinn suchen, verwandelt es sich und löst sich auf.

Wie erwähnt bringt uns eine starre Haltung nicht weiter. Wenn wir ein Problem erkennen und akzeptieren, können wir daraus lernen und etwas verändern. Akzeptieren bzw. Annehmen hat immer etwas mit Verändern zu tun.

Beispiel: Ein sturer Mensch, der ständig durch eine Wand zu gehen versucht, erkennt eines Tages, dass die Wand zu hart ist und dass er dadurch andauernd Kopfschmerzen hat. Seine Veränderung oder Konsequenz ist, dass er aufhört, gegen die Wand anzurennen und entscheidet, durch eine vorhandene Türe zu gehen, die sich vielleicht einige Meter daneben befindet. Diese Konsequenz wurde aber nur durch sein Akzeptieren der Situation ermöglicht.

Not macht erfinderisch

Im Deutschen gibt es das wunderbare Wort Notwendigkeit.

Wenn ich über die Bedeutung dieses Wortes nachdenke, kommen mir zwei Bedeutungen in den Sinn:

  • Zum einen kann man sagen, eine echte Wende ist erst dann möglich, wenn eine Not da ist, der man nicht entgehen kann.
  • Zum anderen zeigt dieses Wort, dass man durch Not wendig wird. Dies meint, dass wir in der Not erfinderisch werden und dazu gedrängt werden, Problemlösungen zu finden. Erst durch die Not werden wir gezwungen, etwas zu ändern.

Somit ist jede Not eigentlich ein Segen. Ohne diese Not gäbe es keine Veränderung.
Paramapadma Dhirananda verwendete dafür die Bezeichnung: boon in disguise (ein versteckter Segen).

Offen sein für Neues

Durch eine achtsame, bewusste Lebensweise erhalten wir, noch bevor eine Not eintritt, innerlich Informationen, dass wir etwas verändern sollten.

Eine Haltung, in der wir stets offen für Neues sind, kann uns dabei helfen. Eine verschlossene Einstellung macht einen bevorstehenden Veränderungsprozess viel schwieriger.

Je mehr Vertrauen wir in die Lebensprozesse haben, desto einfacher ist es, sich entwicklungsmässig zu verändern.

Ein weises Sprichwort sagt: „Alles was Du brauchst, ist in Dir.“

„Plötzlich wird das, was kommen will da sein, und dann werden wir das, was wir zu wissen brauchen, erfahren.“

Foto von Hermann Hesse

Hermann Hesse

Die Willenskraft

Um etwas im Leben verändern zu können, müssen wir unsere Willenskraft einsetzen. Gemäss Sri Aurobindo kann der Wille mit dem dynamischen Mental gleichgesetzt werden.

Die Yoga-Philosophie lehrt, dass das Leben 60% durch das Schicksal (Karma) bestimmt wird und dass der Mensch das Leben zu 40% mit dem freien Willen gestalten kann.

Gleichzeitig gibt es aber auch das sog. Widersacherprinzip, welches besagt, dass wir auch immer wieder mit Rückschlägen rechnen müssen. Oft geht es zwei Schritte vorwärts und dann einen zurück. Dies müssen wir akzeptieren, denn es gehört zum Willensbildungsprozess. Das Erreichte muss immer wieder gefestigt werden, sonst ist es nicht stabil genug, um bestehen zu können.

Immer wenn wir etwas erreicht haben und erfolgreich waren, sollten wir auf eine Prüfung gefasst sein. Meistens wird sich dann etwas ereignen, was das Erreichte in Frage stellt. Wenn wir jeden Moment bereit sind, ein neues Problem zu lösen, kann das Erreichte nicht zerstört werden. Dies ist unser Lernprozess. Aus diesem Grund ist der Gebrauch der Willenskraft sehr wichtig.

„Mechanische Willenskraft ist ein unbewusster Gebrauch der Willenskraft.
Bewusster Wille, dagegen ist eine lebendige Kraft, die mit Entschlossenheit und Zielstrebigkeit einher geht – ein Dynamo, der weise eingesetzt werden muss.
Der Dynamo aller unserer Kräfte ist unser Wille. Dieser ist die Triebfeder aller Handlungen.“

Foto von Paramahansa Yogananda

Paramahansa Yogananda

Das Gesetz des Erfolges

Hier ein weiterer Ausschnitt aus ‚Das Gesetz des Erfolges‚ von Paramahansa Yogananda mit dem Titel: Ihr könnt euer Schicksal meistern

„Der Geist ist der Schöpfer aller Dinge. Darum solltet ihr ihn so lenken, dass er nur Gutes bewirkt. Wenn ihr mit dynamischer Willenskraft an einem Gedanken festhaltet, wird er schließlich greifbare Formen annehmen. Und wenn ihr fähig seid, euren Willen stets für aufbauende Zwecke einzusetzen, werdet ihr euer Schicksal meistern.

Ich habe soeben auf drei wichtige Punkte hingewiesen, die euch zu dynamischer Willenskraft verhelfen können:

  1. Sucht euch eine einfache Aufgabe, die ihr euch bisher nie zugetraut habt, und seid fest entschlossen, dass sie euch diesmal gelingen muss.
  2. Vergewissert euch, dass ihr euch etwas Konstruktives und Durchführbares ausgesucht habt, und verbannt dann jeden Gedanken an einen möglichen Fehlschlag.
  3. Konzentriert euch auf ein bestimmtes Ziel, setzt all eure Fähigkeiten ein und ergreift jede sich bietende Gelegenheit, um es zu erreichen.

Tief im Innern müsst ihr aber überzeugt sein, dass das was ihr anstrebt, das Richtige für euch ist und Gottes Plan entspricht. Dann könnt ihr all eure Willenskraft aufbringen, um euer Ziel zu erreichen. Haltet eure Gedanken unterdessen immer auf Gott gerichtet – die Quelle aller Kraft und allen Erfolgs.“

Psychologische Muster, die Entwicklungsspirale

Wenn wir an unseren Gewohnheiten arbeiten, kommen wir unweigerlich mit unseren psychologischen Mustern in Kontakt, welche sich in der frühen Kindheit durch unsere Prägungen durch das Schicksal gebildet haben. Um diese Muster erkennen und dann verändern zu können, ist unbedingt Selbstreflexion notwendig.

Viele Menschen wählen den einfachen Weg und projizieren ihre psychologischen Muster auf andere Personen. Auf diese Weise ist es sehr leicht, ein Problem zu verdrängen und die Schuld jemand anderem zuzuschieben (Sündenbock). Doch dieses Sündenbock-Verhalten funktioniert nur eine gewisse Zeit. Früher oder später muss jeder Mensch an seinen psychologischen Mustern arbeiten. Diese sind wie ein Boomerang, welcher immer wieder zum Ursprungsort zurückkehrt.

Wir alle haben in uns kleinere oder grössere Verdrängungen oder noch nicht aufgearbeitete psychologische Muster, die in bestimmten Lebenssituationen aufbrechen können.

In einer solchen Situation ist es oft sehr schwierig zu unterscheiden, was das innere aufgebrochene Muster ist und was die Realität. Hier beginnt die psychologische Aufarbeitung der Muster. Da diese Muster wiederum durch unsere karmische Konstellation entstanden sind, ist der erste Schritt das Akzeptieren und Annehmen des Musters.

Wenn aber dauernd die Schuld, z.B. für das Fehlschlagen einer Partnerschaft, abgeschoben wird, bleibt das psychologische Muster bestehen. Oft kommt es dann vor, dass man sich in eine andere Person verliebt, welche wiederum dem gleichen psychologischen Muster entspricht, nur die äussere ‘Verpackung’ hat sich geändert.

Um ein entsprechendes psychologisches Muster erkennen zu können, ist ein rigoroser Bewusstwerdungsprozess notwendig. Man unterscheidet das Primärmuster, welches z.B. in der frühen Kindheit eine Verdrängung oder eine Neurose ausgelöst hat und das Sekundärmuster, das wir als Erwachsene, Jahre nach dem Erlebten neu erfahren und die Tendenz haben, es nach aussen zu projizieren. Möchten wir ein psychologisches Muster auflösen, so müssen wir am Primärmuster arbeiten, das heisst die ursprüngliche Verdrängung oder traumatische Emotion innerlich wieder erleben und Licht und Bewusstsein hineingeben (Prinzip der Rückführungsprozesse).

Durch den spirituellen Weg und dessen Praxis wird auch ein Reinigungsprozess ausgelöst, das heisst es kommen gewisse Emotionen wie Depressionen oder Aggressionen hoch, damit sie mit der Zeit aufgelöst werden können.

Je nach Heftigkeit der Muster braucht es vielleicht auch eine äussere Hilfe eines Therapeuten, welcher helfen kann, die Muster bewusst zu machen. Wichtig ist, dass man ganz ehrlich zu sich selbst ist und die Erkenntnisse aufschreibt. Das Führen eines sogenannten Gefühls- oder Emotions-Tagebuches kann auch helfen, die Muster begreifen zu lernen. Je mehr wir von diesen Mustern lernen und verstehen, desto mehr lernen wir über uns selbst.

Der Weg nach innen durch die Yoga-Praxis und vor allem die Meditation beginnt von innen her die Muster abzubauen und bewusst zu machen. So kann es manchmal passieren, dass man nach einer Meditation depressiv, traurig oder aggressiv wird. Auch dies ist ein Reinigungsprozess, der unsere geistigen Verletzungen und Traumata von innen auflösen kann.

Psychologische Muster kennen eine eigene Gesetzmässigkeit und verhalten sich spiralförmig. Oft kann man ein inneres Problemmuster nicht sofort auflösen, sondern dieses transformiert sich auf eine andere Ebene, der Wirkungskreis wird feiner, bis es sich schlussendlich ganz auflöst.

Die unten stehende Grafik zeigt zwei Formen der sog. Entwicklungsspirale (zum Vergrössern auf die Grafik klicken).

Die rechte Spirale mit einem geringen Entwicklungshub entspricht einer Person, welche die psychologischen Muster nicht erkennt und sich nur im Aussen verändert. Bei jeder Spiralwindung taucht das gleiche psychologische Muster mit der gleichen Intensität auf. Dies ist das typische Muster von Personen, welche die eigenen Probleme nach Aussen projizieren und jeweils anderen die Schuld geben.
Die linke Spirale, welche einen grossen Entwicklungshub aufweist, charakterisiert die Entwicklung einer Person, welche an den psychologischen Mustern arbeitet. Die Muster kommen zwar wieder, aber in einer abgeschwächten Form, bis sie sich mit der Zeit ganz auflösen.

Transformationsprozesse

Der Sinn des Lebens ist eigentlich ein Lernprozess und der Anreiz zur Weiterentwicklung. Wir sind nicht nur zum Vergnügen da, sondern das Leben hat den Sinn, uns weiterzuentwickeln.

Weiterentwicklung meint, durch Yoga-Sādhana zu erkennen, dass nicht unser kleines Ego und dessen Wünsche der Sinn des Lebens ist, sondern dass eine grössere Kraft durch uns hindurchtönen möchte.

Das Wort ‘Person’ kommt vom Lateinischen personarehindurchtönen.

Was möchte durch uns hindurchtönen?

Es ist unser Wesenskern, welchen Sri Aurobindo das seelische Wesen nennt, siehe mein Blogbeitrag Das zentrale Wesen.

Sri Aurobindo unterscheidet auf dem spirituellen Weg drei verschiedene Transformations-Prozesse:

  1. Die seelische Transformation, bei der die Kräfte des Körpers, des Vitalen und Mentalen unter den seelischen Einfluss gebracht werden und nach und nach immer mehr dem seelischen Wesen überantwortet werden.
  2. Die spirituelle Transformation. Für die volle spirituelle Transformation ist ein ständiger Aufstieg vom niederen in das höhere Bewusstsein notwendig und eine wirksame, ständige Herabkunft des Höheren in die niedere Natur.
  3. Die supramentale Transformation, dies bedeutet die Herabkunft des Göttlichen in Mental, Vital und Physis, um diese umzuwandeln (zu vergöttlichen).

Mehr Informationen zu den drei Transformationsprozessen siehe mein Blogbeitrag Methoden und Ziel des Integralen Yoga.

Dies ist ein Auszug aus dem Yoga-Thementag Umgang mit Gewohnheiten.