YOGA – seine Bedeutung, Methoden und Ziele

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Das Wort Yoga ist mittlerweile in der ganzen Welt bekannt. Die meisten Menschen haben aber eine bestimmte Vorstellung von Yoga. Die einen assoziieren Yoga mit einer Person, welche im Padmāsana (Lotosstellung) sitzt und meditiert, andere wiederum verbinden damit verschiedene Yogastellungen. Selten kennt jemand die wahre Bedeutung von Yoga, zumal es immer mehr verschiedene Yoga-Arten gibt. Dieser Beitrag befasst sich mit der Bedeutung, den Methoden und dem Ziel von Yoga.

Einleitung

Dieser Blog-Beitrag befasst sich mit den Hauptprinzipien des Yoga und setzt sich nicht mit den verschiedenen modernen Hatha-Yoga-Stilen der Neuzeit auseinander, welche vorwiegend die körperlichen und vitalen Aspekte des Yoga abdecken.

„Die meisten Yoga-Systeme erfahren ständig eine gewisse Evolution, indem im Einklang mit dem Zeitgeist und regionalen Erfordernissen des kulturellen und gesellschaftlichen Umfelds Modifikationen vorgenommen werden und neue Übungsstile entstehen.

In der westlichen Öffentlichkeit wird der Begriff Yoga meist mit den Körperübungen des Hatha-Yoga in Verbindung gebracht, da diese Übungen große Popularität erlangten und zum Teil auch, insbesondere in den USA, von prominenten Schauspielern, Musikerinnen oder auch Politikern praktiziert werden. In diesem Kontext ist der Yoga häufig eher der Rubrik Fitness und Wellness zuzuordnen oder auch den Bereichen von Therapie, Rückenschulung und Mentaltraining, in denen er ebenfalls viel Anerkennung und Verbreitung gefunden hat.“

Auszug aus dem Yoga Lexikon von Wilfried Huchzermeyer

Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt einerseits in der Erwähnung der Yoga-Arten, welche in den indischen Schriften beschrieben werden (traditionelle Yogasysteme) und andererseits im Vergleich dieser traditionellen Yoga-Arten mit dem System des Integralen Yoga von Sri Aurobindo (1872-1950), das eine Synthese aller Yoga-Arten ist und im Fundament auf vedische Grundelemente zurückgreift. Der Integrale Yoga ist ein ganzheitliches und zukunftsweisendes Yogasystem, dessen Bedeutung, Methoden und Ziel von den herkömmlichen Yogamethoden abweichen.

Wortbedeutung von Yoga

Das Sanskrit-Wort Yoga m ist aus der Verbalwurzel yuj abgeleitet, was »einen, vereinigen, anbinden, anjochen« bedeutet. Yoga bedeutet somit »Einheit, Einung, Vereinigung, Verbindung«.

Im “Petersburger Wörterbuch”, das grosse, bis heute weltweit massgebliche Wörterbuch Sanskrit-Deutsch, das zwischen 1855 und 1875 von Böhtlingk und Roth publiziert wurde, findet man insgesamt 28 Bedeutungen für das Wort Yoga.

Das Sanskrit-Wort Yoga ist mit dem deutschen Wort Joch sprachverwandt, welches eine Verbindungsstelle bezeichnet, wie bei einem Zuggeschirr, mit dem ein Ochse vor einen Wagen oder Pflug gespannt wird.

Der Begriff Yoga kommt erstmals in den indischen Schriften in der Taittirīya-Upaniṣad (2.4.1) vor, die vermutlich auf das 2. Jahrtausend v.Chr. zurückgeht. In den früheren Schriften wie den älteren Upaniṣaden und den Veden wurde der Begriff tapas (wörtlich: Askese, Glut) für die gleiche Bedeutung verwendet.

Obwohl die deutsche Rechtschreibung auch die Schreibweise Joga zulässt, ist dies aus Sanskrit-Sicht völlig falsch. Ein J ist ein anderer Buchstabe im Sanskrit-Alphabet und würde als weiches dsch ausgesprochen (wie das j im Englischen – z.B. just).

Bemerkung:
Bitte verwenden Sie deshalb für die Schreibweise des Wortes Yoga immer ein Y.

Yoga-Arten in den indischen Schriften

In den Schriften werden 108 verschiedene Yoga-Arten oder Yoga-Wege (Yoga-Mārga) erwähnt. Je nachdem werden diese in folgende Gruppen eingeteilt:

a) Yoga-übliche Einteilung (gemäss Bhagavadgītā und Yogasūtra)

Dreifacher Yoga-Pfad (Yoga-Mārga) gemäss Bhagavadgītā:

  • Karma-Yoga oder Karma-Mārga, der Weg des Handelns gemäss Bhagavadgītā, 3. Kapitel
  • Jñāna-Yoga oder Jñāna-Mārga, der Weg der Erkenntnis, gemäss Bhagavadgītā, 4. Kapitel
  • Bhakti-Yoga, oder Bhakti-Mārga der Weg der Liebe zu Gott gemäss Bhagavadgītā, 12. Kapitel

Achtstufiger Weg des Yoga (Aṣṭāṅga-Yoga) gemäss Patañjali:

  • Rāja-Yoga oder Rāja-Mārga, der königliche Yoga gemäss Yogasūtra

b) Einteilung gemäss Śiva-Saṁhitā (Haṭha-Yoga-Schrift):

  • Mantra-Yoga oder Japa-Yoga
  • Laya-Yoga
  • Haṭha-Yoga
  • Rāja-Yoga

Sri Aurobindo schreibt in Die Synthese des Yoga:

„Wenn wir nun bei den hauptsächlichen Yoga-Schulen, die heute noch in Indien vorherrschen, die Vielfalt ihrer besonderen Methoden beiseitelassen und unser Augenmerk allein auf ihr zentrales Prinzip richten, finden wir, dass sie sich In einer aufsteigenden Ordnung aufbauen, die von der untersten Sprosse der Leiter, vom Körper, ausgeht und bis zum direkten Kontakt zwischen der individuellen Seele und dem transzendenten und universalen Selbst emporsteigt.

  • Der Hatha-Yoga wählt den Körper und die vitalen Funktionen als seine Instrumente zur Vervollkommnung und Realisation. Sein Hauptinteresse gilt dem grobstofflichen Körper.
  • Der Raja-Yoga bevorzugt als seine Hebelmacht das mentale Wesen in seinen verschiedenen Teilen. Er konzentriert sich auf den subtilen Leib.
  • Der Dreifache Pfad des Wirkens [Karma], der Liebe [Bhakti] und des Wissens [Jnana] verwendet gewisse Seiten des mentalen Wesens, den Willen, das Herz und den Intellekt als Ausgangspunkte und sucht durch deren Umwandlung zur befreienden Wahrheit, Seligkeit und Unendlichkeit zu gelangen, in denen die Natur des spirituellen Lebens besteht. Seine Methode ist ein direkter Umgang zwischen dem menschlichen purusha im individuellen Körper und dem göttlichen purusha, der in jedem Leib wohnt und doch jede Form und jeden Namen transzendiert. ….
    Der Dreifache Pfad der Herzenshingabe, des Wissens und der Werke (Bhakti-Yoga, Jnana-Yoga und Karma-Yoga) führt in jenes Gebiet, das der Raja-Yoga nicht einnimmt. Er unterscheidet sich vom Raja-Yoga darin, dass er sich nicht mit dem komplizierten Training des gesamten mentalen Systems als der Voraussetzung für die Vollkommenheit befasst, sondern nur gewisse zentrale Prinzipien, den Intellekt, das Herz und den Willen herausgreift und ihr normales Funktionieren dadurch umzuwandeln versucht, dass er sie von ihren üblichen nach außen gerichteten Interessen und Betätigungen abkehrt und auf das Göttliche konzentriert. Der Dreifache Pfad unterscheidet sich also darin vom Hatha-Yoga, dass er der Vervollkommnung des Mentals und des Körpers gleichgültig gegenübersteht und nur nach deren Läuterung als einer Voraussetzung für die göttliche Verwirklichung strebt. ….

Wir erkennen auch hier, dass die drei Pfade [Bhakti-Yoga, Jnana-Yoga und Karma-Yoga], integral betrachtet, ein einziger Pfad sind. Normalerweise sollte die göttliche Liebe zur vollkommenen Erkenntnis des Geliebten durch inniges Einssein führen und so zum Pfad des Wissens werden. Ebenso sollte die Liebe zum göttlichen Dienst treiben und zu einem Weg der Werke werden. In gleicher Weise sollte auch ein vollkommenes Wissen die vollkommene Liebe und Freude erwecken, in der man die Werke des Göttlichen Wesens, das man erkennt, vollzieht. Werke, die Ihm geweiht sind, sollten in der völligen Liebe zum Meister des Opfers und in der tiefsten Erkenntnis seiner Wege und seines Wesens ihre Vollendung finden. Auf diesem Dreifachen Pfad gelangen wir am besten zum absoluten Wissen, zur Liebe und zum Dienst an dem Einen in allen Wesen und in aller Manifestation.“

Die nachfolgenden Beschreibungen der verschiedenen Yoga-Arten, stammen aus dem Yoga Lexikon von Wilfried Huchzermeyer und aus dem Buch Die Synthese des Yoga von Sri Aurobindo.

Haṭha-Yoga

Hatha-Yoga [haṭha] m wörtl. Yoga der Kraft. Oft wird auch eine esoterische (nicht lexikalisch belegte) Bedeutung genannt: Ha sei der Sonnenatem, Prāṇa, und Tha der Mondatem, Apāna. Die Vereinigung von Ha und Tha führe zur Erweckung der Kundalinī, der verborgenen Schlangenkraft.
Die wichtigsten Quellentexte sind die Hatha-Yoga-Pradīpikā, die Gheranda-Samhitā und die Shiva-Samhitā. Es gibt viele weitere Texte, von denen ein großer Teil noch nicht herausgegeben, übersetzt und erforscht ist.
Im Westen wird zumeist der Hatha-Yoga gemeint, wenn allgemein von «Yoga» gesprochen wird, und man verbindet damit oft nur Körper- und Atemübungen, die der Gesundheit und Entspannung dienen. Der ursprüngliche Zweck dieser und anderer Praktiken war es, den Körper für spirituelle Erfahrungen zu stärken. So heißt es in der Gheranda-Samhitā 1.8: «Wie eine nicht gebrannte Urne, die im Wasser versenkt wird, so zersetzt sich alsbald das körperliche Gefäß. Wird es jedoch gut gebrannt im Feuer des Yoga, so wird es geläutert und beständig».
Der Hatha-Yoga ging historisch aus der tantrischen Tradition hervor, die es sich zum Ziel setzte, das Körperliche nicht als Hindernis für die Verwirklichung zu betrachten, sondern vielmehr als deren Träger. In diesem Sinne entwickelten Hatha-Yogīs eine außerordentliche Körperkultur mit einer ungewöhnlichen Beherrschung von Organen und Energien.
Als Urheber dieses Yogas gilt Goraksha, der im 9. oder 10. Jahrhundert lebte und mit der Goraksha-Shataka einen der Quellentexte des Hatha-Yoga verfasste. Diese neue Form des körperbetonten Yoga fand nicht überall gleich Anerkennung, sondern musste sich teils gegen heftige Kritik seitens anderer Richtungen behaupten, die mit Geringschätzung auf alles Körperliche und Vergängliche herabblickten. ….
Im Westen fand der Hatha-Yoga großen Anklang, als seine positiven gesundheitlichen und therapeutischen Aspekte bekannt wurden. Einige SchülerInnen begnügen sich mit dieser Erfahrung, anderen wird sie zum Ausgangspunkt, um die tieferen Aspekte des Yoga zu erkunden. …“

Auszug aus dem Yoga Lexikon von Wilfried Huchzermeyer

Sri Aurobindo schreibt in Die Synthese des Yoga:

„Das Ziel des Hatha-Yoga ist die volle Beherrschung des Lebens und des Körpers, also dessen Kombination der „Nahrungs-Hülle“ mit dem „vitalen Träger (Gefäß)“, die, wie wir gesehen haben, den grobstofflichen Leib ausmacht; ihr Gleichgewicht ist die Grundlage für alle Wirkensweisen der Natur im menschlichen Wesen. Das von der Natur hergestellte Gleichgewicht der Kräfte reicht wohl für das normale, vom Ich bestimmte Leben aus. Es genügt aber nicht für den Zweck des Hatha-Yogin. Es ist nämlich aufgrund der Menge vitaler oder dynamischer Kraft berechnet, die zum Antrieb der Körpermaschine während der normalen Spanne des menschlichen Lebens notwendig ist. Mit ihr sollen wir die verschiedenartigen Betätigungen mehr oder weniger zureichend durchführen, die das in dieser Menschengestalt wohnende individuelle Leben und die äußerlich bestimmende Umwelt von ihr fordern. Darum sucht der Hatha-Yoga die Natur zu berichtigen und ein anderes Gleichgewicht der Kräfte herzustellen, durch das der physische Körper das starke Einströmen einer immer stärker werdenden vitalen oder dynamischen Kraft, des prana, aushalten kann, das in seiner Menge und Intensität fast unbegrenzt und unendlich ist. In der Natur ist die Basis des Gleichgewichts die Individualisierung einer begrenzten Menge und Kraft des prana. Mehr als diese kann der individuelle Mensch aufgrund seiner persönlichen oder ererbten Gewöhnung nicht ertragen, verwenden oder beherrschen. Im Hatha-Yoga wird vom gegenwärtigen Gleichgewicht her ein Tor zur Universalisierung der Individuellen Vitalität dadurch geöffnet, dass er eine viel weniger im Voraus bestimmte und begrenzte universale Energie in den Körper zu dessen Verfügung und Beherrschung einwirken lässt.

Die beiden Haupt-Disziplinen des Hatha-Yoga sind asana und pranayama. Durch seine zahlreichen asana, die vorgeschriebenen Körperhaltungen, heilt er zunächst den Körper von jener Ruhelosigkeit, die ein Zeichen für seine Unfähigkeit ist, die vitalen Kräfte, die aus dem universalen Lebens-Ozean in ihn einströmen, in sich festzuhalten, ohne sie gleich in Aktion und Bewegung zu verarbeiten. Dadurch gibt der Hatha-Yoga dem Körper eine außerordentliche Gesundheit, Kraft und elastische Feinheit. Er will ihn von jenen Gewohnheiten befreien, durch die er der gewöhnlichen physischen Natur unterworfen ist und in den engen Grenzen ihrer normalen Abläufe festgehalten wird. In der alten Tradition hat man immer vom Hatha-Yoga angenommen, er könne so weit getrieben werden, dass er großenteils sogar die Schwerkraft überwindet. Durch verschiedene genau ausgearbeitete Hilfsprozesse strebt der Hatha-Yogin zunächst danach, den Körper von jeglicher Unreinheit zu befreien und das Nervensystem für jene Atemübungen unbelastet zu halten, die seine allerwichtigsten Hilfsmittel sind. Man nennt sie pranayama, die Beherrschung des Atems oder der Vitalkraft. Das Atmen ist das hauptsächliche physische Funktionsmittel der vitalen Kräfte. Der Hatha-Yogin verwendet das pranayama zu einem doppelten Zweck. Zunächst hilft es weiter zur Vervollkommnung des Körpers. Die Vitalität wird von manchen der gewöhnlichen Bedürfnisse der physischen Natur befreit. Man erlangt eine robuste Gesundheit, erhält sich die Jugendkraft länger und gewinnt oft auch eine außergewöhnliche Lebensdauer. Außerdem erweckt das pranayama die „zusammengerollte Schlange“ der prana-Dynamik im vitalen System und eröffnet dem Yogin Ebenen des Bewusstseins, Bereiche der Erfahrung und abnorme Befähigungen, die dem gewöhnlichen Menschenleben versagt bleiben. Zugleich intensiviert der Hatha-Yoga die normalen Kräfte, die der Yogin bereits besitzt. Solche Errungenschaften kann er sich durch weitere Hilfsprozesse, die Ihm offenstehen, darüber hinaus sichern und verstärken. Die Erfolge des Hatha-Yoga sind also augenfällig und machen auf das gewöhnliche physische Mental der Menschen leicht einen tiefen Eindruck.“

Rāja-Yoga

Rāja-Yoga m der «königliche Yoga», aufgezeichnet von Patañjali im Yogasūtra. Der Begriff als solcher wurde allerdings erst lange nach Patañjali geprägt.
Der Rāja-Yoga besteht aus den acht Stufen des Ashtānga-Yoga, d.h. Yama, Niyama, Āsana, Prānāyāma, Pratyāhāra, Dhāranā, Dhyāna und Samādhi. ….

  • Yama steht für fünf allgemeine ethische Gebote: Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, reine Lebensweise und Begierdelosigkeit.
  • Niyama beinhaltet fünf Regeln oder Observanzen: körperliche und geistige Reinheit, Zufriedenheit, spirituelle Praxis, Studium der heiligen Schriften, Hingabe an Gott.
  • Āsana bezeichnet jene Körperhaltungen, die für die Praxis der Meditation förderlich sind.
  • Prānāyāma ist die Praxis der Atemregulierung, wodurch Prāna harmonisiert wird.
  • Pratyāhāra ist das Abziehen der Sinne von ihren Objekten, was den Geist von Ablenkungen befreit.
  • Dhāranā ist die Fixierung des Geistes auf einen bestimmten Gegenstand, bei dem er längere Zeit kontinuierlich verweilt.
  • Dhyāna bezeichnet die eigentliche Meditation, bei der die innere Sammlung noch weiter intensiviert wird.
  • Samādhi ist die tiefste Form der Sammlung, das vollständige Einheitsbewusstsein, bei dem letztlich der Gegenstand der Meditation und der betrachtende Geist verschmolzen sind.“

Auszug aus dem Yoga Lexikon von Wilfried Huchzermeyer

Sri Aurobindo schreibt in Die Synthese des Yoga:

„Der Raja-Yoga fliegt zu einem höheren Ziel. Er strebt nach der Befreiung und Vervollkommnung nicht nur des körperlichen sondern auch des mentalen Wesens, nach der Beherrschung des emotionalen und des sinnlichen Lebens und nach der Meisterschaft über den ganzen Apparat des Denkens und des Bewusstseins. Er richtet sein Augenmerk auf das citta, auf jenen Stoff des mentalen Bewusstseins, in dem alle diese Wirkensweisen ihren Ursprung haben. Ebenso, wie es der Hatha-Yoga mit seinem physischen Material tut, sucht er das citta zunächst zu läutern und zu beruhigen. Der normale Zustand des Menschen ist der einer Verwirrung und Unordnung; es ist ein Reich, das entweder im Krieg mit sich selbst liegt oder schlecht regiert wird. Der Herr, der purusha, ist hier seinen Ministern, seinen Befähigungen und selbst seinen Untertanen, den Instrumenten der Sinnesempfindungen, der Gefühle, des Handelns und des Genießens hörig. Darum muss zuerst das svarajya, die Herrschaft des Selbst, diese Abhängigkeit ersetzen. Der Raja-Yoga muss zuerst den Mächten der Ordnung helfen, die Gewalten der Unordnung zu überwinden. Am Anfang des Raja-Yoga steht eine sorgfältige Selbst-Disziplin, mit der die ordnungswidrigen Abläufe, in denen sich das niedere nervliche Wesen gefällt, durch gute Gewohnheiten des Mentals ersetzt werden. Durch die praktische Übung in der Wahrhaftigkeit, die Absage an alle Formen egoistischen Strebens, durch Verzicht darauf, anderen ein Leid zuzufügen, durch ein reines Leben, durch ständige Meditation und die Hinwendung zum göttlichen purusha, dem wahren Herrn des mentalen Reiches, wird ein reiner, froher und lichter Zustand des Mentals und des Herzens hergestellt. Das ist nur der erste Schritt. Danach müssen die gewöhnlichen Funktionsweisen des Mentals und der Sinne völlig zur Ruhe gebracht werden, damit die Seele frei werden kann, sich in die höheren Bewusstseinszustände zu erheben und in ihnen die Grundlage für eine völlige Unabhängigkeit und Meisterschaft aus dem Selbst zu erlangen. Der Raja-Yoga vergisst auch nicht, dass die Behinderungen des gewöhnlichen Mentals in großem Maße davon herrühren, dass es den Reaktionen des Nervensystems und des Körpers unterworfen ist. Darum übernimmt er vom Hatha-Yoga dessen Methode von asana und pranayama, beschränkt jedoch deren vielfältige und komplizierte Formen auf einen einzigen, einfach und unmittelbar wirksamen Prozess, der für sein eigenes Ziel ausreicht. So vermeidet er die Schwerfälligkeit des Hatha-Yoga und verwendet doch dessen rasche, erfolgreiche Methoden zur Beherrschung des Körpers und der vitalen Funktionen. Er erweckt damit jene inneren dynamischen Kräfte, die reich sind an jener verborgenen übernormalen Befähigung, die mit dem Yoga-Begriff der kundalini versinnbildlicht wird, jener zusammengerollt schlafenden Schlange der Energie in unserem Innern. Danach geht der Raja-Yoga dazu über, das ruhelose Mental stillzulegen und durch Konzentration der mentalen Kraft in Stufen, die bis zum samadhi führen, auf eine höhere Ebene emporzuheben.

Durch samadhi erlangt das Mental die Befähigung, sich aus den begrenzten Wirkensweisen seines Wachzustandes in freiere und höhere Zustände des Bewusstseins zurückzuziehen. Dadurch erfüllt der Raja-Yoga einen doppelten Zweck. Er erzielt ein geläutertes mentales Wirken, das von den Verwirrungen des äußeren Bewusstseins befreit ist. Von da geht er zu den höheren supramentalen Ebenen über, auf denen die individuelle Seele in ihre wahre spirituelle Existenz eingeht. Er erlangt aber auch die Befähigung, das Bewusstsein mit jener freien, konzentrierten Kraft auf seinen Gegenstand einwirken zu lassen, von der unsere Philosophie des Integralen Yoga versichert, sie sei die ursprüngliche kosmische Energie und die Methode der göttlichen Einwirkung auf die Welt. Der Yogin, der schon im Zustand der Trance im Besitz des höchsten suprakosmischen Wissens und der Erfahrung ist, kann nun im Wachzustand unmittelbar jedes Wissen erwerben und jede Meisterschaft ausüben, die ihm für sein Handeln in der objektiven Welt nützlich oder notwendig erscheinen. Das alte System des Raja-Yoga erstrebte nicht nur das svaraiya, die Herrschaft aus dem Selbst oder die subjektive Macht und völlige Beherrschung aller Zustände und Betätigungen, die dem eigenen Bereich angehören, durch das subjektive Bewusstsein. Vielmehr umfasste er auch das samrajya, die Herrschaft über die Außenwelt, also die Macht des subjektiven Bewusstseins über sein Wirken nach außen und über die Umwelt.

Wir sehen also, dass in gleicher Weise, wie der Hatha-Yoga in seinem Umgang mit dem Leben und Körper die supranormale Vervollkommnung des physischen Lebens und seiner Befähigungen erstrebt und darüber hinaus in den Bezirk des mentalen Lebens eindringt, der Raja-Yoga die Kräfte des Mentals verwendet, auf eine supranormale Vervollkommnung und Ausweitung der Befähigungen des mentalen Lebens abzielt und darüber hinaus weiter in den Bereich der spirituellen Existenz vorstößt. Die Schwäche dieses Systems liegt darin, dass es sich in übergroßem Maße auf die abnormen Zustände der Trance verlässt. Diese Einschränkung führt zuerst zu einer gewissen Zurückhaltung dem physischen Leben gegenüber, das unser Fundament und die Sphäre ist, in die wir unsere mentalen und spirituellen Gewinne herniederbringen sollen. Besonders das spirituelle Leben wird in diesem System zu sehr mit dem Zustand des samadhi verknüpft. Dagegen ist es unser Ziel, das spirituelle Leben und seine Erfahrungen im Wachzustand und sogar im normalen Gebrauch unserer Funktionen völlig aktiv und verwendbar zu machen. Im Raja-Yoga tendiert es dazu, sich auf eine Ebene zweiten Ranges in den Hintergrund unserer normalen Erfahrungen zurückzuziehen, statt herniederzukommen und unsere ganze Existenz in Besitz zu nehmen.“

Karma-Yoga

Karma-Yoga m der Yoga der Werke. Neben dem Weg der Erkenntnis (Jñāna) und Liebe (Bhakti) einer der drei Haupt-Yoga-Wege, die in der Bhagavadgītā dargelegt werden.
Das 3. Kapitel widmet sich ausführlich dem Karma-Yoga. Jeder Mensch wird durch seine Geburt in ein Umfeld ständiger Aktivitäten hineinversetzt und ist auch ständig selbst aktiv in seinem Körper. So heißt es in Vers 3, «niemand kann auch nur für einen Moment untätig verweilen».
Deshalb wäre es unrealistisch, sich dem Getriebe entziehen zu wollen, um dadurch eine spirituelle Verwirklichung zu erreichen. Besser ist es, zunehmend bewusst und aus dem höheren Selbst heraus zu handeln und die Werke dem Göttlichen als Gabe darzubringen. Solche Werke, die nicht einem egoistischen Impuls entspringen, sondern einem höheren Gesetz unterliegen, schaffen keine Verstrickung in die Welt des Werdens, bleiben gleichsam ohne Spuren.
Der Karma-Yogī begibt sich also nicht in einen Modus äußeren Nicht-Tuns, um dann zu meditieren (wie Asketen es praktizieren), sondern er lenkt seine Energien solcherart, dass die Arbeit selbst zur Meditation werden kann oder in jedem Fall eine Basis schafft für eine gesunde, natürliche Meditation, wenn die Werke des Tages getan sind. Dann verschmelzen Tun und Nicht-Tun zu einer Einheit, indem die selbstbezogene Identifikation mit den Werken gelöst wird.“

Auszug aus dem Yoga Lexikon von Wilfried Huchzermeyer

Sri Aurobindo schreibt in Die Synthese des Yoga:

„Der Karma-Yoga, der Pfad der Werke, will, dass jede menschliche Betätigung dem höchsten Willen geweiht wird. Er beginnt mit einer Absage an jede ichhafte Zielsetzung für unser Wirken. Kein Werk soll aus einem ichhaften Interesse oder um eines weltlichen Resultats willen unternommen werden. Durch diese Entsagung reinigt der Karma-Yoga das Mental und den Willen so sehr, dass wir leicht der großen universalen Energie, die der wahre Täter all unseres Handelns ist, bewusst werden können und den Herrn dieser Energie als seinen Regenten und Lenker anerkennen. Das Individuum ist nur der Schauspieler, der die Rolle spielt, ein Instrument dieses Herrn oder (positiver ausgedrückt) bewusster Mittelpunkt seines Wirkens und seiner Beziehung zur Erscheinungswelt. Die Entscheidung und Lenkung des Handelns wird immer mehr und bewusst diesem höchsten Willen und dieser universalen Energie überlassen. Ihm werden unsere Werke ebenso wie die Ergebnisse unseres Wirkens letztlich überantwortet. Das Ziel besteht darin, dass die Seele von ihrer Gebundenheit an äußere Erscheinungen und an ihre Reaktion auf äußere Aktivitäten befreit wird. Der Karma-Yoga wird, ebenso wie die anderen Yoga-Pfade, zur Befreiung aus der weltlichen Existenz und zum Eingehen in den Höchsten verwendet.

Aber auch hier braucht der Weg nicht in einem das Diesseits ausschließenden Ergebnis zu enden. Dieser Pfad kann ebenso gut dahin führen, dass man die göttliche Art in allen Energien, in allen Ereignissen und Tätigkeiten wahrnimmt und dass die Seele in einer freien und ich-befreiten Weise an der kosmischen Aktion teilnimmt. Wenn man diesen Pfad so geht, wird er auch allen menschlichen Willen und alles Wirken auf die göttliche Ebene emporheben, wo sie spiritualisiert werden und wo das kosmische Ringen um Freiheit, Macht und Vollkommenheit im menschlichen Wesen seine Rechtfertigung findet.“

Jñāna-Yoga

Jñāna-Yoga m Yoga der Erkenntnis. Neben Bhakti-Yoga und Karma-Yoga einer der drei Hauptwege der klassischen Tradition. Jñāna ist hier nicht Wissen, das erworben wird, sondern wachsende Urteilskraft und Unterscheidungsvermögen (viveka), welche es dem Sucher ermöglichen, Einblick in das wahre Wesen der Dinge zu erlangen.
Im dualistischen System des Sānkhya liegt das Gewicht auf der Unterscheidung zwischen dem, was wirklich und was nicht wirklich Teil des wahren Selbstes ist. Im Advaita Vedānta geht es um die Erkenntnis, dass hinter der vielfältigen Erscheinungswelt die eine, unwandelbare Wirklichkeit des Brahman liegt.
In der Chāndogya-Upanishad wird in einem berühmten Dialog zwischen dem Weisen Uddālaka Aruni und seinem Sohn Shvetaketu tiefe Erkenntnis durch Frage und Antwort erarbeitet. Auf die Frage des Weisen, was den übrig bleibe, wenn ein ganz winziger bereits zerbrochener Keim des Nyagrodha-Baumes nochmals geteilt werde, antwortet sein Sohn, «Nichts». Darauf der Weise: «Diese subtile Essenz, die du nicht siehst, das ist der ganze Nyagrodha-Baum… Darin haben alle Dinge ihre Existenz. Das ist die Wahrheit, das ist das Selbst. Und das, Shvetaketu, das bist du – tat tvam asi.» “

Auszug aus dem Yoga Lexikon von Wilfried Huchzermeyer

Sri Aurobindo schreibt in Die Synthese des Yoga:

„Der Pfad des Wissens (Jnana-Yoga) strebt nach der Realisation des einzig-höchsten Selbst. Er geht von der Methode der intellektuellen Reflexion, vicara, hin zur richtigen Unterscheidung, viveka. Er beobachtet und unterscheidet die verschiedenen Elemente in unserem äußerlich erscheinenden Wesen, lehnt die Identifikation mit jedem von ihnen ab und gelangt dazu, sie auszuschließen und in einem gemeinsamen Begriff als die konstituierenden Elemente der prakriti, der phänomenalen Natur, und als die Schöpfungen der maya, des phänomenalen Bewusstseins, auszusondern. So kann dieser Yoga des Wissens schließlich zu seiner richtigen Identifikation mit dem reinen, allein wirkenden Selbst kommen, das nicht veränderlich oder vergänglich ist und durch kein Phänomen und keine Kombination von Phänomenen bestimmt werden kann. Von diesem Punkt aus führt der Weg, wie er gewöhnlich begangen wird, dazu, dass man die phänomenalen Welten als eine Illusion aus dem Bewusstsein zurückweist und dass die individuelle Seele zuletzt ohne Wiederkehr in das Höchste Wesen versinkt.
Aber ein solches, die phänomenale Wirklichkeit ausschließendes höchstes Ziel ist nicht das einzige, unvermeidliche Ergebnis des Pfades des Wissens. Wenn man nämlich die Methode des Wissens in einer umfassenderen Weise und mit einem weniger individuellen Ziel befolgt, kann sie dazu führen, dass man die kosmische Existenz ebenso aktiv für das göttliche Wesen erobert, wie sie zu einer Transzendenz von ihr führt. Der Punkt, wo sich beide Wege innerhalb dieses Jnana-Yoga trennen, ist die Erkenntnis, dass das höchste Selbst nicht nur im eigenen, sondern in allen Wesen ist. Schließlich erkennt man, dass in Wirklichkeit gerade die phänomenalen Aspekte der Welt ein Kräftespiel des göttlichen Bewusstseins und nicht etwas seiner wahren Natur völlig Fremdes sind. Auf der Basis dieser Realisation ist eine noch höhere, umfassendere Erkenntnis möglich: alle Formen des Wissens, so weltlich sie auch sein mögen, können in Wirkensweisen des göttlichen Bewusstseins umgewandelt und dazu verwendet werden, dass man das einzige Ziel und den alleinigen Gegenstand des Wissens sowohl an sich als auch durch das Spiel seiner Formen und Symbole wahrnimmt. Eine solche Methode kann sehr wohl dazu führen, dass man den ganzen Bereich des menschlichen Intellekts und seine Wahrnehmung auf die göttliche Ebene emporhebt, ihn spiritualisiert und das kosmische Ringen der Menschheit um das Wissen dadurch rechtfertigt.“

Bhakti-Yoga

Bhakti-Yoga m der Yoga der Liebe und Hingabe. In der Bhagavadgītā Teil des dreifachen Weges der Werke, der Erkenntnis und der Liebe. Das gesamte 12. Kapitel ist dem Bhakti-Yoga gewidmet und bezeichnet den Anbeter, der seine Gedanken beständig und voller Glauben auf Krishna richtet, als herausragenden Yogī.
Das Bhāgavata-Purāna 3.29.14 beschreibt den weit fortgeschrittenen Bhakti-Yoga eines Anbeters, der sogar den Wunsch entsagt, in Vishnus göttliche Welt einzugehen, da es sein einziges Verlangen ist, als Gottes Werkzeug nach seinem Willen zu wirken.
In der Praxis sind Bhajan und Kīrtan wirksame Mittel der Inspiration, welche helfen, den Bhakti-Yoga innerlich auch in den Alltag hineinzutragen, indem, alle Werke mit Liebe getan werden. “

Auszug aus dem Yoga Lexikon von Wilfried Huchzermeyer

Sri Aurobindo schreibt in Die Synthese des Yoga:

„Der Bhakti-Yoga, der Pfad der Herzenshingabe, strebt danach, die höchste Liebe und Seligkeit zu erfahren. Er verwendet normalerweise den Begriff des höchsten Herrn in seinem personalen Aspekt als des göttlichen Liebenden, der am Universum seine Freude hat. So wird die Welt als ein Spiel des Herrn im Kosmos wahrgenommen, dessen höchster Schauplatz unser menschliches Leben ist, das er durch die verschiedenen Phasen spielt, in denen er sich einmal verbirgt und dann wieder offenbart. Das Prinzip des Bhakti-Yoga will alle normalen Beziehungen des menschlichen Lebens verwenden, in denen sich das Gefühl ausdrückt. Er richtet das tiefe Empfinden aber nicht mehr nur auf die vorübergehenden weltlichen Beziehungen, sondern auf die Freude am All-Liebenden, All-Schönen und All-Beseligenden. Religiöse Verehrung und Meditation werden allein für die Vorbereitung dieser Beziehung zum Göttlichen und für die Erhöhung ihrer Intensität verwendet. In seiner Inanspruchnahme aller emotionalen Beziehungen ist dieser Yoga so allumfassend, dass sogar die Feindschaft und Opposition gegen Gott als eine intensive, ungeduldige und umgekehrte Form der Liebe aufgefasst wird und als ein Mittel gilt, möglicherweise zur Realisation Gottes und zur Erlösung zu gelangen. Aber auch dieser Pfad führt so, wie er gewöhnlich begangen wird, von der Welt-Existenz weg und dahin, dass der Liebende (wenngleich in anderer Weise als der Monist) im Transzendenten und Suprakosmischen aufgeht.
Jedoch kann auch hier ein den Kosmos so ganz ausschließendes Ergebnis des Bhakti-Yoga durchaus vermieden werden. Er selbst liefert dadurch ein wichtiges Korrektiv, dass er das Spiel der göttlichen Liebe nicht auf die Beziehung zwischen Gott, der höchsten Seele, und dem Individuum einschränkt, sondern es auf ein gemeinschaftliches Fühlen und eine gemeinsame Gottesverehrung der Anhänger ausweitet, die durch die gleiche Realisation der höchsten Liebe und Seligkeit geeint sind. Er korrigiert seine Ausschließlichkeit in einer noch allgemeineren Weise dadurch, dass der göttliche Geliebte in allen Wesen, nicht nur in den Menschen, sondern auch im Tier, wahrgenommen wird; diese Realisation wird dann leicht auf alle Gestaltungen überhaupt ausgedehnt. Wir können verstehen, wie diese umfassendere Anwendung des Bhakti-Yoga dazu führen kann, dass der gesamte Bereich der menschlichen Gefühle, Empfindungen und ästhetischen Erfahrungen auf die göttliche Ebene emporgehoben, spiritualisiert und so die kosmische Arbeit zur Verwirklichung von Liebe und Freude in der Menschheit gerechtfertigt wird.“

Mantra- oder Japa-Yoga

Mantra-Yoga m die beständige Wiederholung eines Mantras als Teil des inneren Entwicklungsweges wurde und wird von vielen bekannten spirituellen Lehrern als hervorragend geeignetes Mittel des Fortschritts in unserem Zeitalter empfohlen. ….
Während es die natürliche Neigung des Geistes ist, sich in vielen Richtungen zu zerstreuen und vielfältigen Impulsen nachzugehen, hat das Mantra die Funktion, den Geist zu stabilisieren. Es schafft zunächst im subtilphysischen Körper, der aus yogischer Sicht parallel zum physischen Körper existiert, eine Art feine Spur, als würde ein Pfad freigelegt, der letztendlich auch auf der materiellen Ebene Wirkung zeigt.
Im Laufe der Zeit wird der Geist durch den ständigen Kontakt mit den spirituellen Inhalten der heiligen Worte verfeinert und empfänglich gemacht für die innere Stille. Insofern handelt es sich beim Mantra-Yoga um eine transformative Praktik, die jedoch in der Regel erst wirklich fruchtbar wird, wenn man sich auch der Bedeutung des Mantras öffnet und nicht bloß die Wörter mechanisch wiederholt.
Freilich kursieren in Indien auch viele Geschichten von Mantra-Rezitierenden, die ohne jede Kenntnis des Inhalts der Worte zur Verwirklichung gelangten, weil sie das Mantra voller Glauben wiederholten, was sicher auch ein bedeutender Faktor ist.
Historisch geht der Mantra-Yoga auf die älteste vedische Zeit zurück. Schon damals praktizierten die Brahmanen als Teil des Opferrituals eine hochentwickelte Mantra-Rezitation, bei der die exakte Aussprache und Intonation der Wörter als äußerst wichtig galt, um das Ziel – die Aufrufung der jeweiligen Gottheiten – tatsächlich zu erreichen.
Erst in der Epoche der Tantras bildete sich jedoch ein Mantra-Yoga im Sinne eines eigenständigen Yoga-Weges heraus. Viele tantrische Texte widmen sich diesem Thema und erläutern es in allen Details. Tatsächlich hat keine andere Literatur die Philosophie und Praxis des Mantras so ausführlich dargelegt wie diese Schriften. Letztlich wird das heilige Wort gleichsam als Leib der aufgerufenen Gottheit betrachtet, es führt direkt zu ihr hin.“

Auszug aus dem Yoga Lexikon von Wilfried Huchzermeyer

Laya-Yoga

Laya-Yoga m Yoga der Vereinigung der Einzelseele mit dem Absoluten mittels Anbetung, Verehrung oder durch Techniken wie Prānāyāma, Mudrā, Visualisierung und Meditation.“

Auszug aus dem Yoga Lexikon von Wilfried Huchzermeyer

Integraler Yoga (Pūrṇa-Yoga), eine Synthese traditioneller Yoga-Wege, mit einem zusätzlichen neuen Element

Da der Integrale Yoga gemäss Sri Aurobindo auf anderen Websites wie

detailliert beschrieben ist, begnüge ich mich in auf die unten stehende kurze Definition aus dem Yoga Lexikon:

Integralyoga, Integraler Yoga, Pūrṇa Yoga. Bezeichnung insbesondere für Sri Aurobindos ganzheitlichen Yoga, der nicht nur einen Aufstieg des menschlichen Geistes zum Göttlichen anstrebt, sondern die Herabkunft des Göttlichen in alle Bereiche des Lebens und in die Materie.
Sri Aurobindo erläuterte dieses Konzept erstmals während des Ersten Weltkriegs in seinen Schriften, insbesondere in seinem Werk Die Synthese des Yoga. Dabei begnügte er sich nicht damit, die Essenz schon vorhandener Yoga-Wege zusammenzuführen, sondern er führte mit der Ebene des Supramentalen auch einen zusätzlichen Aspekt ein.
Als Yoga in der 2. Hälfte des 20. Jhs. mit der Vielzahl von Lehrern in den Westen kam, wurde er im Einklang mit der amerikanischen und europäischen Mentalität generell mehr auf Diesseitigkeit und Lebensnähe ausgerichtet und die Bezeichnung «integraler» oder «ganzheitlicher» Yoga wird seitdem zum Teil auch von anderen Richtungen verwendet.
So gründete Swami Satchidananda, ein Schüler Sivanandas, 1966 das Integral Yoga Institute, das verschiedene traditionelle Yoga-Wege in einer Synthese zu einem neuen System zusammenführt. Die
Anhänger Satchidanandas ließen sich später den Begriff «Integral Yoga» in den USA als Warenzeichen registrieren. Allerdings steht fest, dass Sri Aurobindo diese Worte, die früh zu einem Kernbegriff in seinem Yoga wurden, bereits in der Synthese des Yoga zahllose Male benutzte.“

Auszug aus dem Yoga Lexikon von Wilfried Huchzermeyer

Unterschiede zwischen den traditionellen Yoga-Arten und dem Integralen Yoga

Sri Aurobindo unterscheidet zwischen den alten, herkömmlichen bzw. traditionellen Yogasystemen und dem Integralen Yoga (Pūrṇa-Yoga). Die Methoden und das Ziel des Integralen Yoga weichen teilweise von denjenigen der traditionellen Yoga-Arten ab. Der Integrale Yoga ist eine Synthese der traditionellen Yoga-Wege, folgt jedoch bezüglich der Methoden, dem Zweck und Ziel einen eigenen Weg.

Sri Aurobindo schreibt in Briefe über den Yoga, Band 2:

„Der Weg, dem dieser Yoga [Integraler Yoga] folgt, unterscheidet sich hinsichtlich seines Zwecks von anderen Yoga-Wegen, denn sein Ziel besteht nicht nur darin den Menschen aus dem üblichen, nichtwissenden Welt-Bewusstsein zum göttlichen Bewusstsein emporzuführen, sondern auch die supramentale Kraft dieses göttlichen Bewusstseins in das Nichtwissen des Mentals, des Lebens [Vital] und des Körpers herniederzubringen, diese zu wandeln, das Göttliche in der Welt zu offenbaren und ein göttliches Leben in der Materie zu schaffen.“

Weiter schreibt Sri Aurobindo in Briefe über den Yoga, Band 1:

Mein Yoga [Integraler Yoga] ist, verglichen mit alten Yogasystemen, insofern neu:

  • Weil er nicht auf eine Abkehr von der Welt und dem Leben um des Himmels und nirvāṇa willen zielt, sondern auf eine Wandlung des Lebens und Daseins, und dies nicht als etwas untergeordnetes oder Zufälliges, sondern als deutliches und im Mittelpunkt stehendes Ziel. Wenn es ein Herabkommen in anderen Yogasystemen gibt, so ist dies lediglich ein Zufall auf dem Weg oder etwas, das sich aus dem Aufsteigen [des Bewusstseins] ergibt – das Aufsteigen jedoch ist [dort] das Ziel. Hier ist das Aufsteigen der erste Schritt, es ist ein Hilfsmittel für das Herabkommen. Stempel und Siegel dieser Sadhana ist das Herabkommen des neuen Bewusstseins, das durch das Aufsteigen erreicht wird. Selbst Tantrismus und Vishnuismus enden in der Befreiung vom Leben; hier ist das Ziel die göttliche Erfüllung des Lebens.
  • Weil das Ziel, nach dem gesucht wird, nicht eine individuelle Verwirklichung des Göttlichen zum Heile des einzelnen ist, sondern etwas, das für das Erdbewusstsein hier gewonnen werden muss, eine kosmische, nicht allein eine überkosmische Verwirklichung. Das zu Gewinnende ist das Einbringen einer neuen Bewusstseins-Macht (der des Supramentals), die bislang noch nicht in der Erdnatur geformt und direkt tätig wurde, nicht einmal im spirituellen Leben, die also noch geformt und unmittelbar wirksam gemacht werden muss.
  • Weil eine Methode zur Erreichung dieses Ziels erarbeitet wurde, die so total und umfassend ist, wie dieses Ziel selbst, nämlich die gänzliche und integrale Wandlung des Bewusstseins und der [menschlichen] Natur; sie greift zwar alte Methoden auf, doch nur als Teilaspekt und augenblickliche Unterstützung anderer [Methoden], die sich von diesen unterscheiden. Ich habe in alten Yogasystemen diese Methode (in ihrer Ganzheit) oder etwas Ähnliches weder verkündet noch verwirklicht gesehen. Wäre dem nicht so, hätte ich meine Zeit nicht damit vergeudet, in dreißigjähriger Suche und innerer Schöpfung einen Pfad auszuhauen, wenn ich stattdessen sicher zu meinem Ziel hätte heimeilen können, leichten Galopps, auf Wegen, die bereits gebahnt wurden, ausgetreten, kartographiert, asphaltiert, gesichert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Unser Yoga ist kein alter Pfad, sondern ein spirituelles Abenteuer.“

Methoden

Die Basis der meisten traditionellen Yogasysteme ist der achtstufige Weg des Yoga (Aṣṭāṅga-Yoga oder Rājā-Yoga) gemäss Rishi Patañjali (siehe unten stehende Abbildung). Das Ziel von Aṣṭāṅga-Yoga oder Rājā-Yoga ist das Erreichen des Nirvikalpa Samādhi-Zustands (Erleuchtung) sowie Mukti oder Mokṣa (Befreiung).

Im 2. sūtra des 1. pāda der Yogasūtren definiert Rishi Patañjali Yoga wie folgt:

yogaś citta-vṛtti nirodhaḥ 

Dies bedeutet: „Yoga ist das Versiegeln der Geistes- und Gemütszustände (citta-vṛtti).“

Im Integralen Yoga ist das Beruhigen von citta zwar eine Voraussetzung für die dreifache Umwandlung (seelische, spirituelle und supramentale Transformation), aber nicht das endgültige Ziel.

Sri Aurobindo schreibt in Briefe über den Yoga, Band 1:
„… Citta, im Gegensatz zu cit oder vijñāna, ist lediglich das grundlegende Bewusstsein von Mental und Leben [Vital], aus dem sich die Substanz der (gewöhnlichen) Gedanken, Gefühle, Erregungen usw. erhebt. …“

Bild oben: citta aus der Sicht des Integralen Yoga

Weiter schreibt Sri Aurobindo in Die Synthese des Yoga:
„Das Ziel des Yoga ist, dass wir aus der niederen in die höhere Natur hinübergelangen. Dieser Übergang könnte dadurch bewirkt werden, dass man der niederen Natur entsagt und sich in die höhere flüchtet (das ist die gewöhnliche Auffassung vom Yoga), oder dadurch, dass die niedere Natur umgewandelt und in die höhere Natur emporgehoben wird. Gerade das muss das Ziel eines Integralen Yoga sein.”

Das Yoga-System von Patañjali umfasst folgende acht Stufen oder Glieder (aṣṭāṅga):

  • Yama (Kontrolle)
  • Niyama (Disziplin)
  • Āsana (körperliche Übungen)
  • Prāṇāyāma (Kontrolle der Lebensenergie)
  • Pratyāhāra (Disziplinierung der Sinne)
  • Dhāraṇā (Konzentration)
  • Dhyāna (Meditation)
  • Samādhi (Trance, Erleuchtung)

Das System des Integralen Yoga (Pūrṇa-Yoga) von Sri Aurobindo kann man als fünfgliedrigen (pañcāṅga) Pfad bezeichnen, der die physischen, die vitalen, die mentalen, die seelischen und die spirituellen Aspekte des menschlichen Wesens umfasst.

Um die Philosophie Sri Aurobindos richtig zu verstehen, muss man den Menschen in seiner fünffachen Natur betrachten und sehen, wie jeder Aspekt zum anderen führt, welcher durch größere Vollkommenheit gekennzeichnet ist, und man schlussendlich zum Höchsten gelangt. Um ganz zu sein, muss man diese fünf Hauptschritte gehen, die sich auf die fünf folgenden Lebensbereiche beziehen:

  • Physis
  • Vital
  • Mental
  • Seelische Aspekte (seelisches Wesen)
  • Spirituelle Aspekte (höhere, göttliche Sphären des Bewusstseins)

Sri Aurobindo schreibt in Briefe über den Yoga, Band 2:

„Die Verwirklichung dieses Yoga [des Integralen Yoga] ist nicht geringer, sondern höher als nirvāṇa oder nirvikalpa samādhi.”

„ … Nicht mokṣa (Befreiung) [ist das Ziel des Yoga], obwohl durch sie die Befreiung und alles übrige kommen kann – all dies darf nicht unser Ziel sein. Das Göttliche allein ist unser Ziel.”

„Die Sadhana dieses Yoga geht nicht durch eine festgelegte mentale Lehre vonstatten oder durch vorgeschriebene Formen der Meditation, durch mantra oder andere Dinge, sondern durch Streben, durch nach innen oder oben gerichtete Konzentration, durch das Sich-Öffnen für einen Einfluss, für die Göttliche Macht über uns und ihr Wirken, für die Göttliche Gegenwart im Herzen und durch die Zurückweisung all dessen, was diesen Dingen fremd ist. Und allein durch Glauben, Streben und Hingabe kann dieses Sich-Öffnen erfolgen.“

Bewusstseinsebenen

In den traditionellen Yogasystemen werden für die Beschreibung des Bewusstseins die Begriffe citta, manas, buddhi, usw. verwendet. Sri Aurobindo betonte, dass eine exakte ontologische Beschreibung im Integralen Yoga mit diesen bisherigen Bezeichnungen  nicht exakt möglich ist und er daher neue Begriffe eingeführt hat.

Sri Aurobindo schreibt in Briefe über den Yoga, Band 1:

„Die Ausdrücke manas usw. gehören der gewöhnlichen Psychologie an und werden für das Oberflächenbewusstsein verwendet.  …
Es ist ein wenig schwierig, die alte Ausdrucksweise mit derjenigen dieses Yoga [Integraler Yoga]  gleichzusetzen, denn erstere geht von der vermischten Oberflächentätigkeit aus und versucht, diese zu analysieren, während in diesem Yoga das, was an der Oberfläche vermischt ist, getrennt und im Licht eines tiefen inneren Wirkens gesehen wird, das der oberflächlichen Sicht verborgen bleibt. Daher mussten wir eine andere Art der Bezeichnung übernehmen.  …
Ich gebrauche diese Ausdrücke im Allgemeinen nicht [manas, usw.] sie gehören der psychologischen Ausdrucksweise des alten Yoga an.“

Für das Verständnis des Integralen Yoga nach Sri Aurobindo ist ein exaktes Wissen über die Topografie der Seins- und Bewusstseinsebenen notwendig. Sri Aurobindo hat in seinen verschiedenen Werken die Teile und Ebenen des Seins exakt beschrieben. Seine Beschreibungen wurzeln nicht in theoretischen Überlegungen, sondern in seinen eigenen Erfahrungen.

Für eine detaillierte Beschreibung über die Wesensteile und Bewusstseinsebenen des Menschen gemäss Sri Aurobindo (siehe auch unten stehende Grafik) verweise ich gerne auf meinen Blogbeitrag: Teile und Ebenen des Seins und den Video-Beitrag in Englisch auf YouTube: Parts of the Being & Planes of Consciousness.

Beziehung zum Leben und zur Welt

Bei den meisten traditionellen Yogasystemen gehört die Abkehr von der Welt zu den Grundvoraussetzungen, um das höhere Sein zu realisieren. Im Integralen Yoga kann es vorübergehend sinnvoll sein, sich etwas von der Welt zurückzuziehen, doch geht es schlussendlich darum, die Natur (Mental, Vital und Mental) zu vergöttlichen (Transformation).

Sri Aurobindo schreibt in Briefe über den Yoga, Band 2:

„Der alte Yoga forderte eine vollkommene Entsagung, die bis zur Aufgabe des weltlichen Lebens reichte. Dieser Yoga [Integraler Yoga] hat stattdessen ein neues und umgewandeltes Leben zum Ziel.“

„All Life is Yoga – Alles Leben ist Yoga.“

Foto von Sri Aurobindo

Sri Aurobindo

Weiter schreibt Sri Aurobindo in Briefe über den Yoga, Band 1 :

„In früheren Yogasystemen war die Erfahrung, die gesucht wurde, die des Spirits, der immer frei und eins mit dem Göttlichen ist. Die menschliche Natur hatte sich nur genügend zu wandeln, damit sie für jenes Wissen und jene Erfahrung kein Hindernis darstellte. Die vollkommene Veränderung bis hinunter ins Physische wurde nur von wenigen gesucht und dann hauptsächlich als siddhi 1), nicht als Manifestation einer neuen Natur im Erdbewusstsein.“

1) Begriffserklärung von siddhi gemäss Yoga-Lexikon von Wilfried Huchzermeyer:
Siddhi f  Erfolg, Vollendung, Verwirklichung, Befreiung; übernatürliche Fähigkeit. Im spirituellen Kontext sind die «Siddhis» jene übernatürlichen Kräfte, die einige Yogīs im Laufe ihrer Sādhanā erwerben, wie Hellsichtigkeit, Telepathie, Levitation, Materialisierung, Bilokation (gleichzeitiges Erscheinen mit zwei Körpern an verschiedenen Orten), Ätherreisen, Heilkräfte etc.  ….“

Ziel und Zweck

Das Ziel der traditionellen Yoga-Systeme ist, in ekstatische Höhen des Samādhi oder Nirvāṇa zu entrücken (transzendieren), ohne dass sich an der Materie etwas verändert. Die niederen Bereiche werden dabei aber nicht umgewandelt. Dies ist ein Prozess des Aufstiegs in göttliche Ebenen (siehe unten stehende Abbildung).

Das Ziel des Integralen Yoga ist, nach dem Aufstieg in die göttlichen Ebenen erfolgt ist, göttlichen Frieden und Harmonie in die Materie herabzubringen und alle Lebensbereiche (Mental, Vital, Physis und Unterbewusstsein) zu transformieren (supramentale Transformation). Dieser Prozess ist schwieriger, doch auf die Dauer die richtige Lösung (siehe unten stehende Abbildung).

Anstatt das Bewusstsein wie bei den traditionellen Yoga-Arten in höhere, göttliche Seinsebenen endgültig entschwinden zu lassen (Samādhi), geht es beim Integralen Yoga auch um eine Herabkunft des Göttlichen in die Materie, um alle Lebensbereiche umzuwandeln (Transformation).

Es geht also darum, durch die supramentale Transformation göttlichen Frieden und Harmonie in Mental, Vital, Physis und schliesslich auch ins Unterbewusste zu bringen und dadurch diese Teile umzuwandeln (siehe unten stehendes Bild).

Sri Aurobindo spricht wie folgt von einer dreifachen Umwandlung (Transformation):

  1. Die seelische oder psychische Transformation, bei der die Kräfte des Körpers, des Vitalen und Mentalen unter den seelischen Einfluss gebracht werden und nach und nach immer mehr dem seelischen Wesen überantwortet werden.
  2. Die spirituelle Transformation. Für die volle spirituelle Transformation ist ein ständiger Aufstieg vom niederen in das höhere Bewusstsein notwendig und eine wirksame, ständige Herabkunft des Höheren in die niedere Natur.
  3. Die supramentale Transformation, dies bedeutet die Herabkunft des Göttlichen in Mental, Vital, Physis und das Unterbewusstsein, um diese umzuwandeln (zu vergöttlichen).

Man kann sich in diese Zusammenhang fragen, wieso die Herabkunft des Göttlichen in die Materie nicht schon in früheren Yogasystemen erwähnt und angestrebt wurde. Der unten stehende Brief von Sri Aurobindo gibt darüber Aufschluss.

Sri Aurobindo schreibt in Briefe über den Yoga, Band 1

„Ich erkläre mir die fehlende Erfahrung des Herabkommens damit, dass die alten Yogasysteme hauptsächlich auf die seelisch-spirituell-okkulte Erfahrungsebene begrenzt waren – auf welcher die höheren Erfahrungen in das stille Mental oder das gesammelte Herz durch eine Art Filtrierung oder Widerspiegelung gelangten – der Bereich dieser Erfahrung erstreckt sich vom brahmarandhra abwärts. Die Menschen haben sich nur im samādhi-Zustand darüber erhoben oder in einem Zustand statischer mukti [Befreiung], wobei jede dynamische Herabkunft fehlte. Alles Dynamische fand im Bereich des spiritualisierten Mentals und des vital-physischen Bewusstseins statt.

In diesem Yoga [Integraler Yoga] erhebt sich das Bewusstsein (nachdem der untere Bereich durch eine gewisse seelisch-spirituell-okkulte Erfahrung vorbereitet wurde) über den brahmarandhra zu den Bereichen darüber, die dem eigentlichen spirituellen Bewusstsein angehören, und anstatt nur von dort zu empfangen, muss es dort leben und von dort das untere Bewusstsein insgesamt verändern. Denn dort gibt es eine Dynamik des spirituellen Bewusstseins, dessen Natur Licht ist, Macht, Ananda, Frieden, Wissen, unendliche Weite; und all das muss erlangt werden und in das ganze Wesen herabkommen; andernfalls kann man wohl mukti erreichen, doch nicht Vervollkommnung oder Umwandlung (eine entsprechende seelisch-spirituelle Wandlung ausgenommen). Wenn ich dies nun ausspreche, wird sich ein großes Geschrei erheben gegen die unverzeihliche Anmaßung, ein Wissen zu beanspruchen, das die alten Weisen und Heiligen nicht besessen haben sollen, und vorzugeben, sie zu übertreffen. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass in den Upanishaden (besonders der Taittiriya) Andeutungen dieser höheren Ebenen und ihrer Natur zu finden sind sowie der Möglichkeit, das gesamte Bewusstsein in ihnen zu sammeln und in sie aufzusteigen. Doch dies wurde später vergessen, und man sprach nur noch von der buddhi als dem Höchsten mit dem Purusha oder Selbst unmittelbar darüber, aber eine klare Vorstellung von diesen höheren Ebenen gab es nicht. Ergo, ein Aufstieg zu unbekannten und unbeschreiblichen himmlischen Regionen im samādhi-Zustand ist möglich, doch kein Herabkommen – daher von dort auch keine Hilfe und keine Möglichkeit der Umwandlung auf Erden; nur Flucht aus dem Leben und mukti in Goloka, Brahmaloka, Sivaloka oder im Absoluten.“

Das Ziel des Integralen Yoga (die supramentale Transformation) wird in den Upaniṣaden im ersten Teil des 1. śloka der Īśā-Upaniṣad erwähnt:

īśā vāsyam idaṁ sarvaṁ | yat kiñca jagatyāṁ jagat | ….

„Mache alles, was sich in der Welt bewegt zur Wohnstatt des Höchsten (von Gott). …“

Übersetzung von Sri Aurobindo:
„Alles (dies) dient dem Herrn als Wohnstatt, was immer individuelles Universum der Bewegung in der universalen Bewegung ist. ….“

Fazit

Obwohl Sri Aurobindo den Integralen Yoga vor über hundert Jahren durch seine Werke bekannt gemacht hat, praktizieren diesen Yoga verhältnismässig wenige Menschen. Der Grund ist sicher auch, dass Sri Aurobindos Philosophie nicht leicht verständlich ist und der Integrale Yoga kein bequemer, leichter Weg ist. Es ist einfacher, Körper, Vital und Mental zu transzendieren, das heisst darüber in ruhige Sphären aufzusteigen zu lassen, als diese durch einen Abstieg vom Göttlichen in die Materie zu transformieren. Es geht in diesem Yoga nicht um eine individuelle Befreiung, sondern um ein kollektives Verändern des ganzen Erdbewusstseins. Aufgrund der aktuellen Entwicklung vieler Yogaübenden ist dieser Weg (noch) nicht für alle wirklich begehbar. Man kann aber definitiv sagen, dass der Integrale Yoga ein Weg ist, der die Zukunft nachhaltig zu einer besseren Welt verändern kann.

Ich danke Wilfried Huchzermeyer für die Durchsicht des Textes und für seine Korrekturvorschläge sowie für seine Erlaubnis, Texte aus dem Yoga-Lexikon in diesem Beitrag zu verwenden.