Ein bedeutendes Ereignis in der Geschichte der Annäherung von Ost und West war sicherlich die inspirierende Mission des Yogis Swami Vivekananda (1863-1902) in Amerika und Europa.
Er war der erste Kulturträger Indiens, der erste Guru, der in der Hochburg der Zivilisation die Weisheit und Liebe Indiens verströmt hat.
Wilfried Huchzermeyer beschreibt in diesem Gastbeitrag das Leben und Wirken dieses mutigen Yogis.
Es war im September 1896, als der indische Yogi und der deutsche Professor sich in Kiel trafen. Sie unterhielten sich angeregt in der Hoch- und Kultursprache des alten Indien – Sanskrit. Swami Vivekananda äußerte sich später begeistert über die Begegnung mit dem Indologen Paul Deussen. „Es wird immer eine der schönsten Episoden in meinem Leben sein – mein erster Besuch bei diesem enthusiastischen Vedanta-Experten in Kiel.”
Damals konnten nur eine Handvoll Indologen etwas mit den Begriffen wie Yoga, Karma oder Guru anfangen, und nicht alle Westmenschen brachten dem Swami so viel Verständnis entgegen, wie der Kieler Professor. Vivekananda brauchte die ganze innere Kraft seines großen Meisters Ramakrishna Paramahansa (1836-1886), um den gewaltigen Kulturschock seines Auftritts im Westen zu bewältigen. Seine Arbeit begann auf der anderen Seite des Atlantiks, in Chicago.
Das Parlament der Weltreligionen
Jeder echte Yogi ist in gewisser Weise auch ein Abenteurer, und das galt ganz besonders für den jungen Mönch, der eines Tages beschloss, nach Amerika zu reisen. Er hatte ziemlich vage etwas von einem „Parlament der Religionen” gehört, das in Chicago tagen sollte. Ein Maharadscha zahlte für die Überfahrt und gab ihm etwas Reisegeld, das jedoch schnell verbraucht war. Fast mittellos stieg Vivekananda Mitte Juli 1893 aus dem Zug in Chicago und erfuhr, dass die Sitzungen erst im September stattfänden und der Termin für die Anmeldung längst verstrichen sei.
Die Lage war aussichtslos. Mit seinen letzten Dollars reiste der Yogi aufs Geratewohl nach Boston. Hier kam seine Bestimmung ihm zu Hilfe. Er lernte eine wohlhabende Amerikanerin kennen, die von seiner Persönlichkeit fasziniert war und zu seiner Sponsorin wurde. Sie ließ ihre Beziehungen spielen, um seine Zulassung zum Kongress doch noch zu erreichen und sorgte auch für seine Unterbringung.
Am 11. September betrat er als Außenseiter den Vortragssaal. Viele prominente Vertreter der großen Religionsgemeinschaften hatten sich versammelt, doch die Blicke der 7000 Delegierten und Teilnehmer richteten sich unwillkürlich auf den unbekannten Gast aus Indien. Er sprach als einer der letzten und begann mit der Anrede: „Sisters and Brothers of America…” Kaum hatte er diese Worte gesprochen, erhoben sich die Delegierten von ihren Sitzen und jubelten ihm zu. „Er wusste gar nicht, ob ihm das galt”, schrieb sein französischer Biograph, der bekannte Autor und Musiker Romain Rolland. „Ahnungslos hatte er als erster den Formelkram abgeschüttelt und zu den Massen in dem Ton gesprochen, den Sie erwarteten.”
Von Swami Vivekanandas Rede am 11. September 1893 existiert eine Tonaufzeichnung.
Diese kann auf folgender Wikipedia-Site gehört werden.
Mantra für ein Jahrhundert
Vivekanandas kurze Ansprache könnte man als Grundsatzrede bezeichnen, die auch für unsere Zeit relevant ist. Es war ein Plädoyer für die Einheit und Toleranz der Religionen, für die Völkerfreundschaft und wider den Fanatismus. Er zitierte den bekannten Vers aus der Bhagavad Gita, worin Krishna zu Arjuna sagt: „Wie die Menschen zu mir kommen, in welcher Form auch immer, so akzeptiere ich sie; sie alle folgen in jeder Weise meinem Pfad.”
Der Mönch hatte gleichsam das Mantra für ein ganzes Jahrhundert gesprochen und erlebte nun überrascht die Ovationen eines begeisterten Publikums. Ein Dutzend Reden folgte noch, doch er wurde zum weitaus populärsten Redner des Kongresses. Der New York Harald kommentierte, aufgrund von Vivekanandas Rede sei deutlich geworden, wie töricht es ist, Missionare nach Indien zu schicken, „in dieses gelehrte Land”. Er schrieb: „Wenn er nur über die Rednertribüne schreitet, applaudiert man ihm, und diese Würdigung von Tausenden nimmt er mit unbefangener Dankbarkeit ohne jede Verblendung entgegen.”
Die empfindsame Seele des Mönches reagierte mit Tränen auf den unverhofften, plötzlichen Erfolg. Dahin war jetzt das Leben in relativer Einsamkeit, wo nach Belieben die innere Kommunikation mit Gott gesucht werden konnte. Aber der Yogi spürte auch, dass eine Kraft ihn trug und für eine bestimmte Arbeit einsetzte. Wie in den USA schon damals üblich, wurde er als erfolgreicher Redner sogleich von einer Agentur auf eine Vortragstour geschickt, die ihn in mehrere Staaten führte. Nachdem er zunächst Amerikas Pracht, Reichtum und technisches Know-how bewundert hatte, lernte er nun auch die Schattenseite des Landes kennen – mit ihrer Geldverschwendung, ihrem Snobismus, der ganzen Brutalität, Engherzigkeit und Verständnislosigkeit gegenüber allem Nicht-Amerikanischen.
Als er in Boston einmal über ein erbauliches, spirituelles Thema sprechen sollte, packte ihn angesichts der kühlen, herzlosen Mienen der Geschäftsleute und Gesellschaftsmenschen solch ein Widerwillen, dass er stattdessen unbekümmert über die westliche Zivilisation herzog, was einen Skandal verursachte. Der Yogi blieb seiner Seele stets treu und ließ sich nicht kaufen. Furchtlos setzte er sich auch gegen die Anfeindungen neidischer Missionare zur Wehr, die ihm seinen Erfolg nicht gönnten. Alsbald machte sich Vivekananda frei von den Vermarktern seines Genies und ging seinen eigenen Weg. Er beschloss, Schüler heranzubilden und unentgeltliche Kurse zu veranstalten. Einige recht mittellose Studenten übernahmen die Anmietung von Räumlichkeiten, die nur äußerst spärlich eingerichtet waren. Da saßen anfangs vielleicht ein Dutzend Hörer – allmählich dann immer mehr – und lauschten seinen Vorträgen über die Upanischaden oder nahmen an seinen Übungen im Raja-Yoga und Jnana-Yoga teil.
Im Sommer 1895 verbrachte er im Kreise guter Freunde einige Wochen in Thousand Island Park, New York. Auf einem Hügel in der Umgebung hatte man Vivekananda einen Landsitz überlassen, wo er Jünger ausbilden konnte. Dort hielt er sieben Wochen lang intensive und inspirierende Vorträge. Im August bis Dezember folgte eine Reise nach England.
In seinen Vorträgen erläuterte er dem westlichen Publikum die Prinzipien des Karma- und Bhakti-Yogas, die Wege der Werke und Hingabe. Große Universitäten wurden auf ihn aufmerksam und boten ihm Lehrstühle für Sanskrit oder Indologie an, doch er zeigte kein Interesse. Immer wieder lenkten Englandreisen ihn von Schwierigkeiten in den Staaten ab. Er hatte zu diesem Zeitpunkt erkannt, dass viele Amerikaner Yoga nur praktizieren wollten, um mehr Macht und Einfluss zu gewinnen. In England dagegen fand er eine größere Kultur und viel tieferes Interesse am Yoga-Weg, insbesondere Aufgeschlossenheit für die Methoden und Prinzipien des Jnana-Yoga.
In mehreren Vortragsreihen in London weihte er das gebildete Publikum in den Yoga der Erkenntnis ein und wagte es nun zum ersten Mal, öffentlich von seinem geliebten Meister Ramakrishna zu sprechen, dem er so viel verdankte. Der Indologe Max Müller bat Vivekananda daraufhin, ihm weiteres biografisches Quellenmaterial zur Verfügung zu stellen, das der Gelehrte später in einem Büchlein über Ramakrishna verwertete. Einige der aufrichtigsten persönlichen Anhänger Vivekanandas waren Engländer, darunter auch Margaret Noble, die später als Sister Nivedita bekannt wurde und in Indien als erste westliche Frau in einen Mönchsorden aufgenommen wurde.
Ohne Rücksicht auf seine bereits schwer angeschlagene Gesundheit verfolgte der Yogi seine Aktivitäten. Im Hochsommer 1896 brachte ein Aufenthalt in den Schweizer Alpen Erholung und Erleichterung. Die Atmosphäre der Bergwelt erinnerte ihn stark an die geliebten Himalayas. Zu dieser Zeit traf ein Brief von Pro. Paul Deussen ein, der ihn nach Deutschland einlud. Vivekananda wollte sich ohnehin gern einen Eindruck von diesem Land verschaffen und reiste über Heidelberg, Köln und Berlin nach Kiel. Es kam zu einer überaus glücklichen und harmonischen Begegnung zwischen dem Vedanta-Gelehrten und dem Vedanta-Lehrer.
Auf der Rückreise begleitete Deussen ihn nach Hamburg, Amsterdam und London. Im Anschluss an weitere Vorträge in England schloss Vivekananda seine Europareise mit einem kurzen Italien-Aufenthalt ab. Nach vier Jahren im Westen kehrte er in seine Heimat zurück, um wieder mit deren eigenem Schicksal, der ganzen Not und Armut, konfrontiert zu werden. Durch die Anerkennung im Westen war seine Autorität in Indien enorm gewachsen, und er nutzte sie jetzt zur Förderung seiner Ziele, widmete sich verstärkt humanitärer Arbeit und gründete die Ramakrishna-Mission.

Swami Vivekananda (Mitte) und seine Mitschüler
Reise ins Abendland und Rückkehr
Als Vivekananda 1899 wieder in den Westen reiste, war er voller Tatendrang. Die Lethargie der Inder war ihm im Kontrast zu der Dynamik der Westmenschen bewusst geworden. Er hatte seine Landsleute heftig gescholten und versucht, sie aufzurütteln. Die Schattenseite des Westens hatte er bereits erfahren, aber nicht zur Genüge. Erst am Ende dieser zweiten Reise war er aller Illusionen beraubt, sah Tragik in der abendländischen Seele, verborgen hinter der Fassade eines beschwingten Gesellschaftslebens. „Hier [in Indien] ist das Äußere traurig und schwermütig; aber dahinter ist Sorglosigkeit und Heiterkeit.”
Er verbrachte ein Jahr in den USA, wo Swami Abhedananda mit Erfolg Vedanta-Institute begründet hatte. Vivekananda hielt nun zahlreiche Vorträge und gründete viele neue Zentren. Durch Schenkung erhielt er ein großes Anwesen bei Santa Clara, wo Swami Turiyananda, ein Mönch mit hervorragenden Sanskrit-Kenntnissen, einen Ashram gründete und viele Aspiranten ausbildete.
Doch Vivekananda löste sich im Innern allmählich vom Leben, fühlte, dass seine Mission bald erfüllt sein würde. „Der Führer, der Guru, das Oberhaupt ist verschwunden”, schreibt er in einem Brief, „ich bin nur noch der Junge, wie er einst unter dem Banyan-Baum von Dakshineswar staunend Ramakrishnas Zauberworte getrunken hat. Das ist meine wahre Natur!” Er besann sich auf sein inneres Selbst, spürte den Frieden eines Menschen, der recht gelebt hat und seiner Seele gefolgt ist, der Erfolg und Niederlage in der psychischen Flamme auflöste.
Einer Einladung zu einem Kongress für Religionsgeschichte folgend begab er sich im Juli 1900 nach Paris. Engagiert nahm er an den Debatten teil und sprach vor allem über die wichtige Rolle der Vedas. Nebenbei widmete er sich der französischen Kultur und pries in einem Artikel Paris als kulturelles und geistiges Zentrum Europas, als „die Flamme der Freiheit”, die Europa „neues Leben eingeflößt hat.” Doch innerlich war er schon zu anderen Horizonten aufgebrochen. Urplötzlich bestieg er das erstbeste Passagierschiff und kehrte allein nach Indien zurück.
In Indien stürzte er sich noch einmal in Aktivitäten, ging immer wieder bis an die Grenzen seines Körpers, der zunehmend von einer schweren Krankheit gezeichnet war. Kritisch beobachtete er die Arbeit der Jünger Ramakrishnas, predigte Dienst und Nächstenliebe, forderte auf, Gott in den Armen und Kastenlosen zu sehen. „Verschiebt auf das nächste Leben die Lektüre des Vedanta und die Praxis der Meditation!” rief er den schockierten Mönchen zu. Doch gleichzeitig förderte er vedische Studien und erteilte immer wieder selbst Unterricht. Am 4. Juli 1902 verließ er – nach tiefer Versenkung – mit neununddreißig Jahren seinen Körper. Jeder, der heute im Westen Yoga praktiziert, kann auf Swami Vivekananda als den Pionier zurückblicken, der in dieser Hemisphäre ein Feld für den Yoga schuf, das dann von anderen, die nach ihm kamen, weiter kultiviert und entwickelt wurde. In nur wenigen Jahren intensiver Tätigkeit hatte der Schüler Ramakrishnas seine Mission im Abendland erfüllt. War es der Beginn des Neuen Zeitalters im Westen?
Gastbeitrag*) von Wilfried Huchzermeyer, Indologe, Autor und Verleger
https://edition-sawitri.de
*) erstmals erschienen im Sonderheft Yoga der Zeitschrift DAO im Mai 1995